Übliche Verdächtige

Zur Beteiligungsstruktur in Partizipationsverfahren

Oft werden Beteiligungsformate aufgrund ihrer homogenen Teilnehmerschaft kritisiert. Doch lässt sich das Phänomen der „üblichen Verdächtigen“ auch empirisch bestätigen? Und welche anderen Faktoren spielen für eine (Nicht-)Beteiligung eine Rolle?

Beteiligungsverfahren Menschen Veranstaltung Energie Agentur.NRW via flickr.com , Lizenz: CC BY 2.0

„Die meisten Verfahren der Bürgerbeteiligung setzen auf Selbstselektion: Es gibt ein Angebot der Beteiligung, das man wahrnehmen kann oder eben nicht. […] Entsprechend sind diejenigen, die sich letztlich beteiligen, keineswegs repräsentativ für die Einwohnerschaft.“ Die Einschätzung des Journalisten Timo Rieg im KURSBUCH BÜRGERBETEILIGUNG #2 beschreibt das vermutete Phänomen der „üblichen Verdächtigen“ bei einer Beteiligungsveranstaltung: Eine mehrheitlich männliche Personengruppe mittleren Alters, mit höherem Bildungsstand, guten Einkommen und politischem Interesse. Eine derartig verzerrte Teilnehmerschaft könnte die angestrebte politische Legitimation von Beteiligungsverfahren nachhaltig infrage stellen. Denn letztlich dominieren so die Interessen einzelner gesellschaftlicher Schichten im Beteiligungsprozess. Doch gibt es diese Gruppe der „üblichen Verdächtigen“ wirklich? Dieser Frage geht der folgende Beitrag anhand ausgewählter Beispiele auf den Grund.

Teilnehmerzusammensetzung am Beispiel von Bürgerhaushalten

Ein methodisches Problem ist dabei eine lückenhafte Datengrundlage. So werden bspw. bei Bürgerhaushalten oft nur wenige soziodemografische Daten (Alter, Geschlecht, Wohnbezirk) erhoben und zusätzlich sind diese häufig gerundet oder laut dem Sozialwissenschaftler Dr. Schneider „aus taktischen Gründen geschönt“ (Schneider 2017: 99). Dennoch bieten sie aufgrund der hohen Anzahl an durchgeführten Verfahren einen vergleichsweise guten Ausgangspunkt für die Erörterung der Eingangsfrage.

Einen ersten Einblick hinsichtlich der Beteiligungsstrukturen bietet eine Zusammenstellung in der Dissertation „Bürgerhaushalte in Deutschland“ (Schneider 2017: 100). Hier wird festgestellt, dass das Alter der Beteiligten bei den analysierten Bürgerhaushalten durchschnittlich zwischen 35 und 65 Jahren lag und keines der Geschlechter dominierte. Hinsichtlich des Bildungsabschlusses besaßen die Teilnehmenden überwiegend einen formell hohen Bildungsgrad wie eine Fachhochschulreife oder einen Universitätsabschluss. Bei der Befragung zum Bürgerhaushalt „Frankfurt fragt mich“ 2012 waren bei 2552 Teilnehmenden rund die Hälfte der online registrierten Teilnehmer Universitäts- oder Fachhochschulabsolventen. Demgegenüber hatten nur 2 % einen Hauptschulabschluss. Auch bei einer Befragung zum Bürgerhaushalt 2011/2012 für die Stadt Oldenburg gaben immerhin 35 % der Befragten an, einen Hochschulabschluss zu besitzen.

Diese Befunde decken sich mit den ersten Auswertungen zu deutschen Bürgerhaushalten Anfang der 2000er Jahre. Albert Günther zeigte damals, dass die Bürgerhaushalte durch mehrheitlich männliche Personen und/oder Personen im Alter zwischen 35-50 Jahren und/oder Personen mit höheren Bildungs- oder Berufsstatus dominiert werden (Günther 2007). Doch welche Faktoren sind ausschlaggebend für die Beteiligungsbereitschaft von Personen?

Gründe für (Nicht-)Beteiligung

Um diese Frage zu beantworten, untersuchte Sebastian Schneider unter anderem den oben erwähnten Bürgerhaushalt der Stadt Oldenburg im Zeitraum von 2010-2012 (Schneider 2017). Insgesamt nahmen 1233 Bürger postalisch (1030) oder online (190) an der Befragung zum Bürgerhaushalt teil. Dabei sticht hervor, dass zwar 45 % der postalisch befragten Bürger eine Beteiligungsabsicht angaben, aber nur 5,2 % dieser Bürger tatsächlich am Bürgerhaushalt partizipierten. Bei der Auswertung der Daten zeigte sich, dass besonders die Faktoren einer Mitgliedschaft im Verein, Vertrauen in die kommunalen Institutionen und eine „internalisierte Beteiligungsnorm“ (Schneider 2017: 249) wichtig für eine tatsächliche Beteiligung waren. Diese Beteiligungsnorm zeigt sich dadurch, dass Bürger es als wichtig erachten, sich gesellschaftlich und politisch einzubringen. Für eine reine Beteiligungsabsicht waren wiederum die Erfolgsaussichten der Beteiligung, die Einschätzung der eigenen politischen Kompetenz, das Vertrauen in die kommunalen Institutionen sowie ebenfalls die Vereinsmitgliedschaft ausschlaggebend.

Diese Befunde finden sich auch in anderen Arbeiten der Partizipationsforschung. Bürger beteiligen sich weniger, wenn sie:

  • nicht über die nötigen Ressourcen wie Zeit, Geld und politische Kompetenz verfügen,
  • schlichtweg kein Interesse an einer politischen Beteiligung haben und kein politisches Einflussbewusstsein besitzen
  • oder nicht in einer sozialen Gruppe – wie einem Verein oder einer Partei – eingebunden sind (Vetter & Remer-Bollow 2017: 86)

In anderen Worten gesagt: Bürger partizipieren nicht „because they can’t, because they don’t want to or because nobody asked“ (Brady et. al 1995: 271).

Fazit

Mit Blick auf die Ausgangsfrage zeigt sich, dass das Phänomen der „üblichen Verdächtigen“ sich auch weitestgehend empirisch bestätigt. Dennoch offenbart die Datenlage zu Bürgerhaushalten, dass die Gründe für eine politische (Nicht-)Beteiligung  weitaus vielfältiger sind. Dabei spielen eben nicht nur Ressourcen, sondern auch ein angemessenes Vertrauen in die Kommunalpolitik und eine starke Verankerung in der Region ein Rolle, wie die Bedeutung der Vereinsmitgliedschaft offenbart.

Literatur

  • Brady, Henry E.; Verba, Sidney; Schlozman, Kay Lehman (1995): Beyond Ses: A Resource Model of Political Participation. In: The American Political Science Review 89 (2), S. 271-294.
  • Günther, Albert (2007): Der Bürgerhaushalt. Bestandsaufnahme – Erkenntnisse – Bewertungen. Boorberg Verlag, Berlin.
  • Schneider, Sebastian H. (2017): Bürgerhaushalte in Deutschland. Individuelle Faktoren und kontextuelle Einflussfaktoren der Beteiligung. Springer VS, Wiesbaden.
  • Rieg, Timo (2017): Repräsentative Bürgervoten dank Teilnehmer-Auslosung. In: Jörg Sommer (Hrsg.): KURSBUCH BÜRGERBETEILIGUNG 2. Deutsche Umweltstiftung, Berlin.
  • Vetter, Angelika; Remer-Bollow, Uwe (2017): Bürger und Beteiligung in der Demokratie. Eine Einführung. Springer VS, Wiesbaden.

Literaturhinweise

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Europa ganz nah: Lokale, regionale und transnationale Bürgerdialoge zur Zukunft der Europäischen Union Forschungsbericht

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Jan Kaßner, Norbert Kersting

Neue Beteiligung und alte Ungleichheit? Politische Partizipation marginalisierter Menschen Forschungsbericht

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Dörte Bieler, Dr. Laura Block, Annkristin Eicke, Luise Essen

Partizipation ermöglichen, Demokratie gestalten, Familien stärken Forschungsbericht

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Gute Beteiligungskultur – auf dem Weg zu einem praxisorientierten Qualitätsmanagement in der Bürgerbeteiligung Buchabschnitt

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Bürgerbeteiligungsverfahren in Großbauprojekten am Beispiel "Dialogforum Schiene Nord" Buchabschnitt

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Adrian Vatter; Claudia Alpiger

Evaluationskriterien zur Bewertung von regionalen Bürgerbeteiligungsverfahren Buchabschnitt

In: Jörg Sommer (Hrsg.): Kursbuch Bürgerbeteiligung #2, Verlag der Deutschen Umweltstiftung | bipar, Berlin, 2017, ISBN: 978-3942466-15-8.

Abstract | Links | BibTeX

Elisabeth Leicht-Eckardt; Marcia Bielkine; Daniel Janko; Daniel Jeschke; Kathrin Kiehl; Dirk Manzke

Urbane Interventionen - Impulse für lebenswerte Stadträume in Osnabrück Buchabschnitt

In: Jörg Sommer (Hrsg.): Kursbuch Bürgerbeteiligung #2, Verlag der Deutschen Umweltstiftung | bipar, Berlin, 2017, ISBN: 978-3942466-15-8.

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