Den Staatenlosen eine Stimme geben

Über die Schwierigkeiten der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen ohne Staatsangehörigkeit

Rund 125.000 Personen ohne Staatsangehörigkeit leben 2022 in Deutschland. Dies hat Auswirkungen, über die viel zu wenig gesprochen wird.

Das Thema Staatenlosigkeit ist ein komplexes Phänomen, das das internationale Völkerrecht und die gesellschaftliche Integration vor eine Reihe von Herausforderungen stellt. Seit 2014 hat sich die Zahl der Menschen ohne bzw. mit nur ungeklärter Staatsangehörigkeit in Deutschland verdoppelt und mit rund 125.000 „Staatenlosen“ einen Höchststand erreicht. Die Situation der Betroffenen ist mitunter prekär.  Im Vergleich mit Personen, die die Staatsbürgerschaft eines demokratischen Landes von Geburt an besitzen, stellen sich für Menschen, die eben keine offiziell anerkannte staatliche Zugehörigkeit haben, zahlreiche Herausforderungen und alltägliche Hürden.

Vor diesem Hintergrund verdient die Debatte um nationale Zugehörigkeit in Demokratien und eine möglichst diskriminierungsfreie Teilhabe am öffentlichen Leben mehr Aufmerksamkeit: Ist die Integration und politische Partizipation in demokratischen Gesellschaften von offiziell geklärter Staatsangehörigkeit abhängig? Welche Bürgerrechte können Personen in Deutschland wahrnehmen, deren Herkunft ungeklärt ist oder die aus Regionen mit ungeklärter Staatlichkeit kommen? Gibt es ein Recht auf staatlich verbriefte Rechte für alle?

Staatenlos gleich rechtlos?

Zunächst liegt der Fokus auf der Frage, warum nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks weltweit knapp 10 Millionen Menschen ohne Staatsangehörigkeit leben. Die Ursachen dafür sind dabei genauso vielfältig wie die betroffenen Personengruppen selbst. Einige Menschen werden bereits staatenlos geboren, allein in Deutschland betrifft dies fast 5.000 hier zur Welt gekommene Mitmenschen. Die Ursache liegt meist darin begründet, dass schon die Eltern des Kindes keine Staatsangehörigkeit in ihren Ausweisdokumenten vorweisen können und dieses Merkmal an die nächste Generation vererbt wird. Andere Staatenlose haben erst im Laufe des Lebens ihre ursprüngliche nationalstaatliche Angehörigkeit verloren. Gründe dafür liegen oft in der Diskriminierung von bestimmten Bevölkerungsteilen aufgrund von Geschlecht, ethnischer Herkunft oder Religion. Diese rassistischen Praktiken können sogar in veränderte Staatsangehörigkeitsgesetze münden, die ganze Personengruppen als „illegitim“ stigmatisieren und ihnen dadurch das Recht auf Staatsangehörigkeit entziehen. So wurden 1962 den in Nordsyrien lebenden Kurd*innen und ab den 1980er Jahren systematisch den in Myanmar beheimateten Rohingya die Staatsangehörigkeit aberkannt. Weiterhin können Staatsauflösungen infolge von Bürgerkriegen und die damit einhergehende gewaltsame Vertreibung als Motor von Staatenlosigkeit fungieren.

Dass sich für Staatenlose weitreichende negative Auswirkungen auf die alltägliche Lebensrealität, die individuelle Selbstverwirklichung und die Artikulation politischer Interessen ergeben, ist mit der ungeklärten Frage ihrer nationalen Identität verbunden. Denn ohne offiziell anerkanntem staatenlosen Hintergrund gelten Betroffene nicht automatisch als staatenlos – und damit nicht gemäß der Vereinten Nationen als besonders schutzbedürftig. Das wirkt sich unmittelbar auf nahezu alle Bereiche des Lebens aus, da ihnen ohne Staatsangehörigkeit auch nicht die jeweils damit verbundenen politischen Rechte zugeschrieben werden und sie keinem Staat gegenüber sozialstaatliche Ansprüche bzw. den staatlichen Schutz dieser Bürgerrechte in Anspruch nehmen können. 

Die Marginalisierung staatenloser Menschen in öffentlichen Institutionen erfolgt in nahezu allen Lebensbereichen. In den meisten Formularen, von der Registrierung an Schulen bis zum Mietvertrag, sucht man die Optionen „staatenlos“ oder „ungeklärte Staatsangehörigkeit“ vergeblich. Für Betroffene bedeutet das nicht selten einen erheblichen Aufwand, um an Angeboten des gesellschaftlichen Zusammenlebens teilhaben zu können, die für die deutliche Mehrheit des jeweiligen Nationalstaates selbstverständlich sind. Denn eine Kontoeröffnung, die Jobbewerbung, der Zugang zu medizinischen Einrichtungen oder Bildungseinrichtungen, die Möglichkeit zu heiraten, Eigentum zu besitzen oder zu reisen verlangen nach der Auskunft über die individuelle Staatsangehörigkeit oder dem Nachweis von offiziellen Ausweisdokumenten. Auch Möglichkeiten der politischen Mitbestimmung werden unmittelbar durch den Status der Staatsangehörigkeit berührt: Mitmenschen ohne bzw. mit ungeklärter Staatsangehörigkeit dürfen weder wählen noch gewählt werden. 

Die Situation Staatenloser sichtbar machen

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer besseren Repräsentation Staatenloser ist mehr Sichtbarkeit. So kann sich die Aufmerksamkeit einer breiten Zivilgesellschaft auf den mitunter verhängnisvollen Kreislauf der Staatenlosigkeit in Deutschland und Europa richten. Positives Beispiel dafür ist der Münchner Verein „Statefree“, der die Lebenslage Staatenloser sichtbar machen und für eine Stärkung ihrer Rechte eintritt. Erst im August dieses Jahres veranstaltete Statefree so ein gemeinsames Zusammentreffen zwischen Staatenlosen und Bundestagsabgeordneten. Auch im digitalen Bereich versucht man für das Thema zu sensibilisieren. Mithilfe des KI-basierten Twitter-Accounts „Anny Faice“, den Statefree in Zusammenarbeit mit der Kommunikationsagentur „Cosmonaut & Kings“ betreibt, werden regelmäßig datenbasierte Informationen veröffentlicht, die die Ursachen und die Lebensrealität von Staatenlosen beleuchten. 

Auch andere Initiativen wie das „European Network on Statelessness“ mit ihrem Projekt „Stateless Changemakers“ oder die Studie „Staatenlosigkeit in Deutschland: Umfang, Sozialdemographie und administrative Verfahren“, begleitet durch den „Sachverständigenrat für Integration und Migration“ in Kooperation mit der Robert-Bosch-Stiftung, geben staatenlosen Gemeinschaften eine Stimme. Zwar spricht diese noch in leisen Tönen, ohne einen größeren Diskurs auf gesamtgesellschaftlicher Ebene angestoßen zu haben. Doch die lauter werdenden Forderungen nach einer konsequenten Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts scheinen das komplexe Thema vermehrt in den Radius politischer Verantwortung zu schieben. Denn damit könnte die Diskussion um gesellschaftliche Vielfalt, staatsbürgerliche Zugehörigkeit im globalen Zeitalter und Diskriminierung marginaler Gruppen um eine weitere relevante Perspektive ergänzt werden. 

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