Beteiligung als Heilmittel

Der demokratiepolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Helge Lindh spricht über Stand und Perspektiven der Partizipation in Deutschland. Er erörtert, wieso mehr Bürgerbeteiligung ein Heilmittel für unsere Gesellschaft sein kann.

Herr Lindh, gefühlt gab es noch nie so viel Bürgerbeteiligung wie heute. Gleichzeitig gibt es Erosionserscheinungen unserer Demokratie. Wie passt das zusammen?

Die spannende Frage wäre: Wie dramatisch wäre die Lage, wenn wir keine Bürgerbeteiligung hätten? Ich denke, mehr Bürgerbeteiligung ist ein Heilmittel für die Verwundung unserer Gesellschaft durch Polarisierung, durch Rassismus, durch die Unfähigkeit gut zu streiten. Sie kann und muss Teil eines Bündels von Maßnahmen zur Belebung der Demokratie und Besänftigung der Polarisierung sein. Entscheidend ist aber der politische Wille.

Wir haben eine starke Zivilgesellschaft, viele engagierte Menschen auch in der Politik, die neue Wege suchen. Sie tun das, weil sie merken, dass es nicht reicht, an vertrauten Mustern festzuhalten. Es ist daher wundervoll zu beobachten, wie schon länger in den Kommunen und immer mehr auch auf Bundesebene Labore der Demokratie entstehen, in denen neue politische Beteiligungsformen erprobt und eingeführt werden. So können neue Wurzeln für unsere Demokratie wachsen, um die Erosion aufzuhalten. 

In welcher Beziehung sehen Sie im Sinne einer starken Demokratie zukünftig Repräsentation, Deliberation und Plebiszite?

Eine Grundregel lautet aus meiner Sicht: Die repräsentative Demokratie ist nicht in Frage zu stellen, sondern unbedingt zu stärken. Keine populistische Anfechtung darf uns dazu verführen, sie zu schwächen. Sie ist ein wirklicher Schatz, den wir haben und die Grundlage, dass wir nicht mehr Diktatur sind, sondern Demokratie wurden.

Zu ihrer Verbesserung aber ist gerade auch deliberative Demokratie, etwa durch Beteiligungsräte und Bürgerräte, eine ganz wichtige Auffrischung und Stärkung der repräsentativen Demokratie. Und auch direkte Demokratie darf kein Tabu sein, ist aber nur sehr dosiert einzusetzen und aus meiner Sicht zwingend in Kombination mit Elementen deliberativer Demokratie. So wird aus allen drei Säulen ein Gesamtkunstwerk.

Kürzlich wurde zum zweiten Mal ein Bürgerrat auf Bundesebene durchgeführt. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung und das Verfahren?

Ich nehme es grundsätzlich positiv wahr, wünsche mir aber eine noch stärker demokratische und letztlich parlamentarische Legitimation und eine größere Bandbreite von Bürgerbeteiligung. Wir haben jetzt durch den Verein „Mehr Demokratie“ diesen Vorstoß. Ich denke, es muss aber eine gesamtgesellschaftliche Bewegung in Richtung deliberativer Beteiligung geben, die alle gesellschaftlichen Gruppen – gerade auch marginalisierte – einbezieht und die vor allem auch im Parlament diskutiert wird. Wir brauchen – um es kurz zu sagen – eine parlamentarische Debatte über die Weiterentwicklung der Demokratie und auch gerade über das Instrument der Bürgerräte, welches als derzeit sichtbarste Variante stellvertretend für viele mögliche Beteiligungsprojekte steht.

Weniger medienwirksam als der angesprochene Bürgerrat auf Bundesebene, aber weit häufiger gibt es auf kommunaler Ebene Partizipationsmöglichkeiten. Braucht es nun mehr Beteiligung im Kleinen oder Großen?

In unserem Zeitalter herrscht wie noch nie die Ökonomie der Aufmerksamkeit. Deshalb ist es auch teilweise ungerecht, wenn wir jetzt alle auf den Bürgerrat auf Bundesebene achten und zum Teil vernachlässigen, welche Fülle von auch sehr klug gemachter Bürgerbeteiligung schon lange auf kommunaler Ebene Realität ist. Deshalb werbe ich dafür, auch dort den Blick hinzuwenden. Das mag zunächst nicht spektakulär wirken, aber das bringt zum Teil spektakuläre Antworten hervor.

Es ist aber keine Entweder-oder-Frage, sondern ein Zusammenspiel. In bestimmten Fragen – auch in brisanten, gesamtgesellschaftlichen Debatten – macht es Sinn, solche Formen der Bürgerbeteiligung auf Bundesebene zu etablieren.

Lassen Sie uns etwas methodischer werden. Beim Bürgerrat werden die Teilnehmenden aleatorisch ermittelt. Sollten wir die Zusammensetzung bei Bürgerbeteiligungsverfahren zukünftig stärker dem Zufall überlassen?

Diese Frage trifft genau einen – salopp formuliert – Knackpunkt. Es gibt vieles, was für Aleatorik spricht, dennoch ist eben auch noch die Frage der Repräsentativität zu stellen. Das heißt: Wie bringen wir diese beiden Elemente in Einklang? Wie ist sichergestellt, dass die Bevölkerung auch repräsentativ vertreten ist?

Und es ist konkret an den Ergebnissen der Beratungen ablesbar, dass zum Beispiel Menschen mit Hauptschulabschluss deutlich unterrepräsentiert sind und solche mit akademischen Abschlüssen deutlich überrepräsentiert sind. Das gilt für die Auswahl der beteiligten Personen, aber ebenso für das Beratungsverfahren an sich. Wenn sich im Verfahren jene Menschen durchsetzen, die gut gebildet und politisch geübt sind und andere Gruppen sich nicht in die Ergebnisse einbringen können, kann das die Wirksamkeit von Beteiligungsverfahren deutlich reduzieren.

Man könnte bei bestimmten Fragestellungen auch gezielt von der Repräsentativität abweichen und marginalisierte Gruppen bewusst überrepräsentieren. Das heißt: Es gibt keine einfache Logik, nach der allein Zufallsprinzip oder allein Repräsentativität das Heilmittel sind.

Die Erfahrungen zeigen, dass gesellschaftliche Gruppen Beteiligungsangebote gegenwärtig unterschiedlich stark annehmen. Sollten Initiatoren von Partizipationsprozessen breite und inklusive Beteiligung proaktiv unterstützen?

Aus meiner Sicht liegt die besondere Qualität, der Charme, aber auch wirklich die demokratische Potenz von Bürgerbeteiligung – anders als wir es in der Vergangenheit vielleicht oft wahrgenommen haben – gerade im Bereich der Inklusion.

Ziel muss es sein, Formen der Beteiligung zu öffnen und sie zu denjenigen zu bringen, die sich scheinbar vom demokratischen Prozess verabschiedet haben oder tatsächlich ausgeschlossen werden. Gerade dadurch können sie die Demokratie neu für sich entdecken und können auch ihre Stimmen hörbar machen, die bisher viel zu wenig gehört werden und auch viel zu wenig Platz haben in unseren Parlamenten.

Spätestens seit der Corona-Pandemie sind digitale Beteiligungstools auf dem Vormarsch. Inwieweit verändert das aus Ihrer Sicht die Bürgerbeteiligung?

Gegen die Zeit zu arbeiten, ist kein kluger Weg. Ebenso wenig wie immer modisch der Zeit hinterher zu laufen. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Digitalisierung nicht aufhaltbar ist und dass sie auch kein Schrecken ist, sondern sie bringt natürlich Möglichkeiten, Risiken, Gefahren und Chancen, alles zusammen. Das heißt: Ohne Digitalisierung ist die Bürgerbeteiligung der Zukunft nicht denkbar. Wir müssen sie einsetzen, aber sie darf nicht die reale Begegnung von Menschen ersetzen, sondern muss damit kombiniert werden. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass zum jetzigen Zeitpunkt auch Teile der Bevölkerung deutlich weniger digital informiert sind, nicht über die Kompetenzen oder auch die technische Ausstattung verfügen, daher wäre eine reine Fokussierung auf die Digitalisierung aktuell exklusiv und nicht inklusiv. Digitaler Klassismus ist keine Utopie, sondern Dystopie, die wir zu verhindern haben.

Blicken Sie zum Ende bitte in die Zukunft: Wie steht es um die politische Teilhabe und Demokratie in 25 Jahren?

Das liegt an uns. Es ist nicht schicksalsgegeben, es gibt keine Naturgesetze der Demokratie, und ich warne davor, den Teufel an die Wand zu malen oder aber auch in Romantisierung eine immer größere Ausweitung der Demokratie zu erwarten. Es liegt tatsächlich an den Entscheidungen, die wir treffen. Wir haben die Möglichkeit, unser Land deutlich demokratischer zu machen – und damit gerechter – und so vielen Menschen wie möglich nur die Chance zu eröffnen, mitzumachen. Und zwar ohne Bevormundung, sondern als nutzbare Freiheit, sich real einzubringen.

Aber es gibt auch ganz starke Kräfte, die – unter Vortäuschung – mit den Mitteln der Demokratie die Demokratie selbst abschaffen wollen. Da steht Demokratie drauf, steckt aber nicht Demokratie drin, sondern autoritäres Denken und Handeln. Diese Gefahr ist erheblich, und wenn wir sie nicht bekämpfen, kann unsere Demokratie auch in 25 Jahren schon eine Scheindemokratie sein. Deshalb: Wir sind gefragt, der Weg ist offen!

Zur Person

Helge Lindh ist demokratiepolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Als Wuppertaler, Stichwort „Planungszelle“, kennt er Beteiligungsverfahren schon seit er angefangen hat, politisch zu denken. Er ist ein großer Verfechter der Demokratie und genau deshalb sollte diese seiner Meinung nach bereit sein, sich auf neue Wege einzulassen

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