Alles nur Zufall

Sogenannte Zufallsbürger werden zunehmend bei gesellschaftsrelevanten Entscheidungen mit einbezogen. Zwei Beispiele aus Irland und Deutschland zeigen, welche Vorzüge und Risiken ein solches Verfahren bringt.

Bürgerbeteiligung - Bürgerdialog Foto: Bürgerdialog Zukunftsthemen via flickr.com, Lizenz: CC BY 2.0

Immer häufiger wollen Beteiligungsvorhaben den sogenannten ‚Zufallsbürger‘ ansprechen, wenn es um politische und gesellschaftsrelevante Entscheidungen geht. Zwei eindrückliche Beispiele aus Irland und Deutschland veranschaulichen, welche Vorteile und Risiken ein solches Bürgerbeteiligungsverfahren mit sich bringen kann.

Hintergrund: Zufallsbürger im alten Athen

Die Idee des Losverfahrens oder der demokratischen Aleatorik fand bereits im antiken Athen Anwendung. Der Begriff aleatorius kommt aus dem Lateinischen und beduetet soviel wie, zum Würfelspieler gehörend. Einen schönen Überblick bietet folgendes TED-Ed Video:

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Durch die zunehmende Kritik an Expertokratien, wie sie die Wirtschaftswissenschaftler Bruno Frey und Margit Osterloh herausstellen, entscheiden sich heute wieder mehr und mehr Regierende für die Einbindung und Konsultierung von Zufallsbürgern. Die Losverfahren sollen die sogenannte ‚Herrschaft der Eliten‘ aufbrechen und mehr Heterogenität zulassen. Bei einer Zufallsauswahl – meist auf Grundlage der Einwohnermeldedaten – hat jede*r die gleiche Chance am Verfahren teilzunehmen. Die Akademikerin genauso wie der Handwerker.

Menschen kommen sich näher

Ein Praxisbeispiel aus Irland veranschaulicht, welch positive Auswirkungen ein Bürgerbeteiligungsverfahren mit zufällig ausgewählten Teilnehmer*innen haben kann. Bereits 2012 führte die irische Regierung das Abhalten regelmäßiger Bürgerversammlungen ein. Eine der ersten dieser Versammlungen, die 100 Bürger*innen umfasste, beratschlagte damals über die mögliche Einführung der Ehe für Homosexuelle. 78 Bürger*innen stimmten dafür. Das irische Parlament folgte ihrem Vorschlag und führte daraufhin ein Referendum durch, welches ebenfalls mit einem JA für die Homo-Ehe endete. Die Bürger*innen zeigten sich couragierter und liberaler als es gemeinhin von den erzkatholischen Iren erwartet wurde. Momentan tagt wieder eine Bürgerversammlung. Auf der Agenda stehen diesmal gleich mehrere Themen: Die Legalisierung von Abtreibungen, der Klimawandel, eine Wahlreform und die Überalterung Irlands. Im April wollen die ausgewählten Zufallsbürger*innen ihre Empfehlungen an das Parlament übergeben.

Besonders eindrücklich ist aber die Geschichte von Finbarr O’Brien, „ein stämmiger Mann von 61 Jahren“ der per Los ausgewählt wurde, an der Bürgerversammlung zur Homo-Ehe teilzunehmen. Er selbst hielt damals überhaupt nichts davon, gleichgeschlechtlichen Paaren das Heiraten zu ermöglichen. Er wollte dagegen stimmen. Doch aus einem anfänglichen „Schwulenhasser“ wurde schließlich einer, der für die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe votierte und noch heute mit seinem schwulen Sitznachbarn befreundet ist. Und er war nicht der Einzige. Es waren mehrere, die ihre Meinungen änderten und am Ende mit JA stimmten. Die Form der aleatorischen Bürgerbeteiligung schaffte jedoch nicht nur zwischenmenschliche und gesellschaftliche Annäherungen. Sie erhöhte auch den Respekt und förderte das Vertrauen gegenüber der Arbeit von Berufspolitiker*innen. Beteiligte lernten die komplizierte Debattenführung und Entscheidungsfindung aus einem neuen Blickwinkel kennen.

Dem Zufall auf die Sprünge helfen?

Der sogenannte Filderdialog in Stuttgart zeigt, welche Problematiken bei Zufallsauswahlverfahren auftreten können. Schon der Start war holprig. Von etwa  80 Angefragten haben im ersten Durchlauf nur fünf Freiwillige zugesagt. Zudem führte ein zwischen Projektträgern und Landesregierung nicht eindeutig kommuniziertes Auswahlverfahren zu Verwirrung. So war den Beteiligten des Filderdialogs zunächst nicht klar, ob auch durch eine gezielte Ansprache ‚Zufallsbürger‘ akquiriert wurden. Aufgrund der ersten „Beteiligungsniederlage“ sprachen Dialogbeauftragte in einem Interview davon, dem Zufall ‚auf die Sprünge zu helfen‘ und gezielt Menschen durch Telefonanrufe anzusprechen. Dabei erwähnte man auch Mütterzentren. Doch eine direkte Ansprache ist keine Zufallsauswahl mehr.

Nachdem erste Kritik lautbar wurde, sind die Aussagen später korrigiert worden. Schon aus Gründen des Datenschutzes sind Mütterzentren eine schlechte Anlaufstelle, so damals Arne Braun, der Vize-Regierungssprecher aus Baden-Württemberg. Schlussendlich hatten sich beim zweiten Anlauf doch noch ca. 70 weitere Freiwillige gefunden, um am Dialog zum geplanten Filderbahnhof teilzunehmen. Heute ist der Bahnhof immer noch im Bau und der Dialogprozess noch nicht abgeschlossen.

Der Zufall als Chance

Auch der Mitautor des KURSBUCH BÜRGERBETEILIGUNG #2, Timo Rieg, plädiert für eine Beteiligung der Zivilgesellschaft an Beratungen und Entscheidungen mittels aleatorischer Verfahren. Laut Rieg ist diese entscheidend bei der Steigerung der gesellschaftlichen Repräsentativität. Er spricht in seinem Beitrag von einem „Miniaturvolk“ oder einem „Mini-Populus“, welches die repräsentative Abbildung der Bevölkerung widerspiegelt. Wichtige Einsatzfelder bilden etwa KonsenskonferenzenPlanungszellen (ähnlich der Citizen Jury) oder Bürgergutachten; beispielsweise bei der Frage der Geflüchtetensituation in der Bundesrepublik. Dadurch könnte ein einvernehmlicheres Handeln erreicht werden. Laut Rieg erhielten kluge Gedanken zu Asyl, Migration oder Demografie einen Wirkungsort und bekämen somit eine Chance gehört zu werden.

Wer mehr über das Thema der ‚Zufallsbürger‘ und aleatorsiche Verfahren erfahren möchte, dem sei auch der Gastbeitrag von Jan-Hendrik Kamlage und Jan Warode wärmstens empfohlen.

Literaturhinweise

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Der Bürgerhaushalt in Europa – eine realistische Utopie? Buch

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Abstract | Links | BibTeX

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