Reinhild Hugenroth: Demokratiepädagogik und Beteiligung

Reinhild Hugenroth berichtet im Interview mit BBLOG von ihrer Arbeit als freiberufliche Demokratiepädagogin und Beraterin für Projektentwicklung.

Bürgerbeteiligung - Fotostudio Cornelia Kirsch, Lutherstadt Wittenberg

Foto: Fotostudio Cornelia Kirsch, Lutherstadt Wittenberg

 

Wie trägt das Konzept der Demokratiepädagogik zu mehr Partizipation bei?

Demokratiepädagogik geht auf John Deweys Konzept „Lernen durch Erfahrung“ zurück. Demokratie lernt man demnach dadurch, dass man demokratisch handelt. In Kita, Schule, Hochschule und außerschulischen Einrichtungen geht es um das Einüben der Demokratie mit unterschiedlichen Konzepten wie z. B. Klassenrat, Service-Learning oder Vollversammlungen. Ein „demokratischer Habitus“ (Wolfgang Edelstein) soll erworben werden.

Worin bestehen Unterschiede zwischen Kindern bzw. Jugendlichen und Erwachsenen bei der Vermittlung politischer Inhalte?

Es ist weniger die Vermittlung von politischen Inhalten, was die Demokratiepädagogik macht, wobei Wissen über Politik eine zentrale Angelegenheit bleibt. Demokratiepädagogik versteht Demokratie als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform, so wie Gerhard Himmelmann es beschreibt. Demnach ist die Herrschaftsform, das, was wir als demokratische Gesellschaft in Form von Parteien und Regierungen erleben, Gesellschaftsform sind die mittleren Ebenen der Verbände und die Lebensform beschreibt die aktuelle Beteiligung z. B. von Kindern in Kita und Schule. Die Herrschaftsform könnte noch früher durch Kinder und Jugendliche (z. B. ab 14 Jahre) geprägt werden. Die Lebensform und Gesellschaftsform steht Kindern und Jugendlichen prinzipiell offen und altersgemäß ist eine Beteiligung möglich.

Gelegentlich kursiert das Gerücht der unpolitischen Jugend. Wie sind Ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen hinsichtlich des Interesses von Jugendlichen und jungen Erwachsenen an politischen Prozessen?

Ich erlebe häufig sehr politische junge Menschen – vor allem in Fragen der sie betreffenden Angelegenheiten wie z. B. Schulmitbestimmung und Umwelt. Junge Menschen wollen beteiligt werden, dann engagieren sie sich auch. Es gibt allerdings auch einen großen schulischen Druck und damit auch weniger Zeitfenster, um sich zu engagieren. Wenn wir es ernst meinen mit „Lernen durch Erfahrung“, dann müssen sich auch unsere Schulen ändern und Erfahrungen ermöglichen, in denen Kinder und Jugendliche demokratisch handeln und gestalten. Da ist noch viel zu tun, um diese  Ermöglichungsstrategien umzusetzen.

Gibt es aus Ihrer Sicht ein Mindestalter bei Mitbestimmungs- oder Beteiligungsprozessen?

Es gibt kein Mindestalter bei der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen bei Fragen, die sie selbst betreffen.

Demokratiepädagogik will Menschen dazu befähigen, ihre Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Was sind dabei aus Ihrer Perspektive zu vermittelnde Kernkompetenzen?

Ich spreche lieber von „Schlüsselkompetenzen“ und bevorzuge dabei die OECD, die in einem langem Prozess die Kompetenzen, die man erwerben kann, studiert und beschrieben hat. Das tolle ist, sie hat sie in drei Schlüsselbereiche zusammengefasst: 1. Interagieren in heterogenen Gruppen, 2. Interaktiver Umgang mit Medien und Mitteln und 3. Autonome Handlungsfähigkeit. Das wird dann weiter ausdifferenziert. Aus der „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ bevorzuge ich die sog. Gestaltungskompetenz nach De Haan und der Bundesausschuß politische Bildung hat mich begeistert mit der Beschreibung von „Utopiekompetenz“. Zusammen gibt es ein optimistisches Bild von Menschen, die durch demokratische Erfahrungen zu Demokraten werden.

Aktive Teilhabe setzt letztlich voraus, dass hinreichende Beteiligungsmöglichkeiten bestehen. Wie beurteilen Sie die gegenwärtigen Mitwirkungsoptionen der Bürgerinnen und Bürger und sehen Sie Unterschiede zwischen kommunaler und nationaler Ebene?

Die Beteiligungsmöglichkeiten für Bürger*innen könnten noch ausgebaut werden. Das gilt für die kommunale wie für die bundesweite Ebene – und auch für Europa. Für diese notwendige Debatte benötigen wir eine „Enquete Demokratie“ des Deutschen Bundestages. Das habe ich im Rahmen des Bundesnetzwerkes Bürgerschaftliches Engagements mit angeregt. Ideengeber war Prof. Roland Roth. Natürlich gibt es Unterschiede der Ebenen. Das Europa der 28 sollte wirklich eine neue politische Ordnung bekommen, die wir mit verschiedenen anderen nationalen Parlamenten diskutieren sollten. Volksentscheide sind nicht das Allheilmittel, aber wir benötigen mehr basisdemokratische Ansätze. Bundesweit können Partizipationsprozesse Gesetzgebungsprozesse begleiten. Kommunal ist am meisten möglich, sei es Bürgerhaushalt oder Planungszellen.


Dr. Reinhild Hugenroth arbeitet freiberuflich als Demokratiepädagogin und Beraterin für Projektentwicklung in Lutherstadt Wittenberg und ist Vorsitzende des Kreisverbandes Wittenberg der Partei BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN in Sachsen-Anhalt.

Literaturhinweise

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Anmerkungen zur Partizipation des Bürgers in der bundesdeutschen Demokratie Buchabschnitt

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