Deliberative Beteiligung in der Praxis

Erfahrungen aus dem Landkreis Marburg-Biedenkopf

„Bürgerbeteiligung ist als verbindendes Element von Bürgerschaft, Politik und Verwaltung zu sehen und trägt zur Identitätsbildung der Bürgerschaft mit dem Landkreis bei“ erklärt Ruth Glörfeld, die Leiterin des Fachdienstes Bürgerbeteiligung und Ehrenamtsförderung in Marburg-Biedenkopf. Im Interview mit bipar spricht sie über Erfahrungen und erfolgreiche Projekte aus ihrem Landkreis.

Bürgerbeteiligung im Radverkehrsdialog, Foto: Landkreis Marburg-Biedenkopf

„Ich freue mich sehr über die Anerkennung durch das Bundesministerium. Der Bürgerdialog Biodiversität ist ein schönes Beispiel dafür, wie sich Potentiale aus unterschiedlichen Bereichen bündeln und zur Verfolgung eines gemeinsamen Zieles nutzen lassen. Und zwar so, dass man es auch draußen ganz praktisch wahrnehmen kann. Dementsprechend danke ich vor allem denjenigen, die sich und ihre Ideen in den Bürgerdialog einbringen“, so die Landrätin Kirsten Fründt des hessischen Landkreises Marburg-Biedenkopf. Er hat sich jüngst mit dem Bürgerdialog Biodiversität erfolgreich gegen 160 Mitbewerber beim neu geschaffenen Wettbewerb „Ausgezeichnet! – Wettbewerb für vorbildliche Bürgerbeteiligung“ in der Kategorie „Strategie“ des Umweltministeriums durchgesetzt.

Im nachfolgenden Interview spricht Ruth Glörfeld, Leiterin des Fachdienstes Bürgerbeteiligung und Ehrenamtsförderung in Marburg-Biedenkopf, über die Möglichkeiten und Herausforderungen der Verwaltung bei der Umsetzung deliberativer Prozesse und stellt mit dem Bürgerdialog Radverkehrsentwicklung ein weiteres gelungenes Praxisbeispiel vor.

Zur Stärkung der repräsentativen Demokratie finden vielerorts deliberative Beteiligungsverfahren Anwendung. Welche Möglichkeiten und Herausforderungen gehen damit vor dem Hintergrund Ihrer praktischen Erfahrungen einher?

Während die Bürgerbeteiligung in Städten und Gemeinden als Mitgestaltungselement bereits seit Längerem praktiziert wird, ist dieses Vorgehen bei Landkreisen noch nicht verbreitet. Der Landkreis Marburg-Biedenkopf ist einer der ersten Landkreise, der sich systematisch des Themas Bürgerbeteiligung annimmt, diese strukturell in sein Verwaltungshandeln integriert und sich auf der Basis des Kreistagsbeschlusses vom 16.05.2014 dieser Herausforderung stellt. Zu beachten ist, dass die in der hessischen Kommunalverfassung festgeschriebenen Mitwirkungs- bzw. Beteiligungsmöglichkeiten in einem Landkreis anderen Voraussetzungen unterliegen, als dies in den Städten und Gemeinden der Fall ist. So sind z. B. die Elemente der direkten Beteiligung durch Bürgerbegehren und Bürgerentscheid für die Städte und Gemeinden in der Hessischen Gemeindeordnung (HGO) geregelt. Für die hessischen Landkreise gibt es diese Beteiligungsmöglichkeiten nicht.

Um so wichtiger ist es, die Möglichkeiten der informellen Beteiligung zu nutzen und das Wissen der Bürgerinnen und Bürger als Expert*innen ihrer eigenen Lebensumwelt einzubeziehen.

Für uns als Kreisverwaltung geht es um das Mitdenken, das Engagement und eine stärkere Identifikation der Menschen mit dem Landkreis – nicht um die bloße Stimmabgabe bei Wahlen. Zugleich ist es uns wichtig, in der Verwaltung eine Kultur der Dienstleistungsorientierung und Bürgernähe zu etablieren und die Entscheidungen von Politik und Verwaltung nachvollziehbar und transparent zu machen.

Bürgerbeteiligung ist als verbindendes Element von Bürgerschaft, Politik und Verwaltung zu sehen und trägt zur Identitätsbildung der Bürgerschaft mit dem Landkreis bei.

Ein häufig thematisiertes Problem ist in diesem Zusammenhang, dass eine breite Aktivierung der Bevölkerung schwerfällt. Welche Erfahrungen haben Sie diesbezüglich gemacht?

Auch im Landkreis Marburg-Biedenkopf ist die breite Aktivierung der Kreisgesellschaft eine große Herausforderung. Dies wird uns als Landkreis u. a. dadurch erschwert, dass wir über keine Einwohnermeldedaten verfügen. Information der Bürgerinnen und Bürger sowie Transparenz der Bürgerdialoge und Entscheidungsfindung gewährleisten wir durch einen multimedialen Kommunikationsmix: Tagespresse, Gemeindeblätter, E-Mailings, Briefe, Plakate, Flyer, jährlicher Beteiligungsbericht, Infobriefe, Facebook, Internetseiten von Kommunen und des Landkreises, in der landkreiseigenen Publikation »Mein Landkreis« sowie durch persönliche Ansprache.

Um möglichst vielen Menschen die Gelegenheit zu geben, sich an den Bürgerdialogen zu beteiligen, werden ergänzend zu Diskussionen und Gesprächsangeboten vor Ort auch digitale Beteiligungen auf der landkreiseigenen Beteiligungsplattform angeboten.

Die Erfahrung zeigt jedoch, dass die Möglichkeit der digitalen Beteiligung alleine noch kein Aktivierungselement besonders für junge Menschen ist. Hier sind die persönliche Ansprache und die Einbindung von Personen, die den direkten Kontakt zu Jugendlichen haben, wie z. B. der Jugendpflege, notwendig.

Bitte geben Sie uns ein Beispiel für ein Verfahren aus Ihrer kommunalpolitischen Praxis, das aufzeigt, wie die entscheidungsrelevante Einbindung der Bürger in einen politischen Entscheidungsprozess gelingen kann.

Als positives Beispiel, wie Bürgerbeteiligung auf Kreisebene erfolgreich organisiert werden kann, ist der Bürgerdialog zur Radverkehrsentwicklung im Landkreis Marburg-Biedenkopf zu nennen. Hier wird deutlich, dass und wie Bürgerbeteiligung nur im Einvernehmen mit den Städten und Gemeinden geleistet werden kann. So konnte z. B. auf kommunale Eigenständigkeit pochenden Bürgermeistern die Sinnhaftigkeit des Prozesses vermittelt und ihre konstruktive Mitarbeit erreicht werden.

Während das Beteiligungsangebot zu Beginn gerade aus der Bürgerschaft mit großer Skepsis und Vorbehalten betrachtet wurde, konnten durch das durchgeführte Beteiligungsverfahren eine gute Arbeitsatmosphäre geschaffen werden. Die von Seiten des Landkreises und anderer an den Diskussionen Beteiligter eingebrachten Hintergrundinformationen förderten in der Bürgerschaft das Verständnis für die Komplexität des Entwicklungsprozesses und halfen dabei, dass die Bürgerinnen und Bürger ihre in den Prozess gesetzten Erwartungen realistischer einschätzen können.

Der Beteiligungsprozess führte in der Bürgerschaft einzelner Kommunen und Ortsteile zu einer sich intensivierenden Diskussion über das Thema Radverkehr. Einzelne Initiativen und Gesprächskreise entstanden, um auf lokaler Ebene über die Verbesserung der Radverkehrsinfrastruktur und des Radverkehrsklimas zu sprechen und mit Vorschlägen und Ideen auf die Politik und die Verwaltungen zuzugehen.

Die durch den Beteiligungsprozess erzeugte Aufmerksamkeit für das Thema Radverkehr schlägt sich in einer deutlichen Zunahme von eingebrachten Vorschlägen und Informationsfragen nieder, denen sich Verwaltung und Politik auf kommunaler wie auch auf Kreisebene stellen müssen.

Der Bürgerbeteiligungsprozess hat vielfältige positive Resonanzen ausgelöst, sowohl durch relevante Akteure des Arbeitsfeldes Bürgerbeteiligung als auch durch Wissenschaft und andere kommunale Körperschaften. Die positive Umsetzung der Bürgerbeteiligung im Landkreis Marburg-Biedenkopf bestätigt auch die diesjährige Prämierung unseres ‚Bürgerdialogs Biodiversität‘ im Rahmen des bundesweiten Wettbewerbs „Ausgezeichnet! Wettbewerb für vorbildliche Bürgerbeteiligung“ des Bundeministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit.

Zur Person

Ruth Glörfeld leitet den von Landrätin Kirsten Fründt 2014 eingerichteten Fachdienst Bürgerbeteiligung und Ehrenamtsförderung im Landkreis Marburg-Biedenkopf.

Literaturhinweise

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Claus Offe

Klassenherrschaft und politisches System. Die Selektivität politischer Institutionen Buchabschnitt

In: Claus Offe; Jens Borchert; Stephan Lessenich (Hrsg.): Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2006.

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Peter Hocke

Expertenkommunikation im Konfliktfeld der nuklearen Entsorgung. Zum Wandel von Expertenhandeln in öffentlichkeitssoziologischer Perspektive Buchabschnitt

In: Peter Hocke; Armin Grunwald (Hrsg.): Wohin mit dem radioaktiven Abfall? Perspektiven für eine sozialwissenschaftliche Endlagerforschung, edition sigma, Berlin, 2006.

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Andreas Kost

Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in Deutschland Artikel

In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd. Band 10, S. 25-31, 2006.

Abstract | Links | BibTeX

Petra Böhnke

Am Rande der Gesellschaft: Risiken sozialer Ausgrenzung Buch

Verlag Barbara Budrich , Leverkusen, 2005, ISBN: 978-3938094938.

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Thomas Petermann; Constanze Scherz

TA und (Technik-)Akzeptanz(-forschung) Artikel

In: Technikfolgenabschätzung - Theorie und Praxis , Bd. 3, Nr. 14, S. 45-53, 2005.

Abstract | Links | BibTeX

Ortwin Renn

Technikakzeptanz: Lehren und Rückschlüsse der Akzeptanzforschung für die Bewältigung des technischen Wandels Artikel

In: Technikfolgenabschätzung - Theorie und Praxis , Bd. 3, Nr. 14, S. 29-38, 2005.

Abstract | Links | BibTeX

Anna Geis

Regieren mit Mediation: Das Beteiligungsverfahren zur zukünftigen Entwicklung des Frankfurter Flughafens Buch

VS Verlag, Wiesbaden , 2005.

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Kerstin Arbter; Martina Handler; Lisa Purker; Georg Tappeiner; Rita Trattnigg

Die Zukunft gemeinsam gestalten. Das Handbuch Öffentlichkeitsbeteiligung Buch

Wien, 2005.

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Nuclear Energy Agency

OECD Nuclear Energy Agency: Stepwise Approach to Decision Making for Longterm Radioactive Waste Management Buch

Experience, Paris, 2004.

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Arbeitskreis Auswahlverfahren Endlagerstandorte (AkEnd)

Auswahlverfahren für Endlagerstandorte - Empfehlungen des AkEnd Forschungsbericht

Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) 2002.

Abstract | BibTeX

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Kommunaler Planungsworkshop
Der Planungsworkshop unterstützt mit seinem strukturierten Ablauf und geringen Zeitanspruch Kommunen bei der Ausarbeitung eines Aktionsplans. Die Methode ist besonders geeignet für Gruppen, die bereits über eine gemeinsame Vision verfügen.

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