Das Los entscheidet

Ein Interview mit Dr. Stephanie Bock und Dr. Bettina Reimann

Mit dem Los zu einer besseren Beteiligung? Ein Gespräch zu Chancen und Grenzen der Zufallsauswahl.

Foto: steenml via Pixabay.

Was kann man sich unter Los-/Zufallsauswahlen von Bürger*innen bei Beteiligungsverfahren vorstellen?

Bei einem Beteiligungsverfahren kann der Kreis der Teilnehmenden auf unterschiedlichen Wegen festgelegt werden. Wenn es sich nicht um ein offenes Angebot für alle Interessierten handelt, die spontan teilnehmen wollen, ist die Zufallsauswahl eine gute Möglichkeit, die Beteiligten gezielt auszuwählen. Bei diesem Verfahren entscheidet das Los, wer an der Veranstaltung, dem Beirat, dem Workshop etc. teilnimmt. Damit unterscheidet sich die Zufallsauswahl deutlich von anderen Zugängen, bei denen entweder mitmacht, wer will, oder bei denen Personen und Gruppen von den Initiator*innen des Beteiligungsverfahrens zur Teilnahme ausgewählt und eingeladen werden.

Seinen Ursprung hat dieses Auswahlverfahren in der Planungszelle, einem Beteiligungsformat, mit dem schon in den 1970er erste Erfahrungen mit zufällig ausgelosten Bürger*innen gemacht werden konnten. Aktuell am bekanntesten ist sicherlich der Citizens‘ Assembly in Irland, der 2016 gegründet wurde, um politische Fragen auf nationaler Ebene zu erörtern und mögliche Verfassungsänderungen zu empfehlen. Aber auch in Deutschland hat die Zufallsauswahl an Bedeutung gewonnen. So gibt es auf Bundesebene beispielsweise den Bürgerrat Demokratie und das Nationale Begleitgremium zum Standortauswahlverfahren für ein Endlager für insbesondere hochradioaktive Abfälle, an denen jeweils zufällig ausgewählte Bürger*innen mitarbeiten. Auch in den Kommunen werden ähnlich zusammengesetzte Beteiligungsräte gegründet. Als Beispiele seien der Potsdamer Beteiligungsrat genannt, an dem sechs geloste Bürger*innen mitwirken, oder das Format der Bürgergutachten, wie es zur Bonner Bäderlandschaft durchgeführt wurde.

Welche Vorteile bieten solche Verfahren?

Lassen Sie uns zunächst etwas zum Status quo sagen. Beteiligungsangebote sprechen, so gut sie im Einzelfall auch gemacht sein mögen, nie alle Menschen an. Beteiligungsangebote werden unterschiedlich wahrgenommen und schließen – bewusst oder unbewusst – viele Menschen aus. Die vielen ergrauten Köpfe bei Bürgerversammlungen, der vorwiegend akademische Duktus in Beteiligungsworkshops und die homogene Zusammensetzung von Beiräten zeichnen ein eindeutiges Bild, das auch Studien bestätigen: Vor allem Menschen mit höherer Bildung, gesichertem Einkommen und vielseitigen sozialen Kontakten beteiligen sich und bringen ihre Interessen ein. Aus der Forschung wissen wir, dass die Wahrscheinlichkeit, ob jemand ein Beteiligungsangebot wahrnimmt, von Faktoren wie Schulabschluss, Bildungsniveau und Einkommen abhängt. Im Umkehrschluss beteiligen sich bildungsferne Milieus, aber auch Frauen, zugewanderte und junge Menschen weniger.

Dieses Problem ist mittlerweile erkannt, und es wird nach Möglichkeiten gesucht, der sozialen Ungleichheit in Beteiligung zu begegnen. Die Zufallsausfall erscheint als ein wichtiger Schlüssel, um eine größere Vielfalt und Heterogenität der Teilnehmenden zu erreichen. Der Zufallsauswahl liegt die Vorstellung zugrunde, dass jede/r Bürger*in grundsätzlich per Los ausgewählt werden kann, d.h. dass alle zumindest theoretisch die gleiche Chance haben, dabei zu sein. Erwartet wird auch, dass die dadurch erreichte größere Mischung der Teilnehmenden dazu führt, dass organisierte Interessengruppen, wie Bürgerinitiativen nicht mehr als die einzige Stimme der Bürger*innen auftreten können.

Diese Überlegungen ermutigen eine wachsende Zahl öffentlicher und privater Vorhabenträger dazu, geloste Bürger*innen in ihre Beteiligungsverfahren auch bzw. gerade bei komplexen und umstrittenen Infrastrukturprojekten einzubinden. Sie gehen davon aus, dass auf diesem Weg unterschiedliche Bevölkerungsgruppen einbezogen werden können und so qualitativ bessere Entscheidungen von zudem höherer Akzeptanz entstehen.

Nun stellt sich die Frage: Sind dies eher Hoffnungen oder erfüllt die Zufallsauswahl die mit ihr verbundenen Erwartungen? Eine Antwort ist nicht so einfach, weil die Erfahrungen und deren wissenschaftliche Reflexion noch nicht fundiert genug sind. Noch ist die Zahl der evaluierten Beteiligungsverfahren mit Zufallsauswahl eher überschaubar. Das Difu hat einige Projekte wissenschaftlich begleitet und untersucht, deshalb wagen wir, erste Schlüsse zu ziehen und zur Diskussion zu stellen.

Wie viel „Zufall“ steckt in solchen Verfahren?

Der Zufall kann sehr unterschiedlich sein. Zunächst einmal ist die Zufallsauswahl ein strukturiertes, an Zielen orientiertes, sorgfältig geplantes und durchgeführtes Auswahlverfahren. Meistens dient das Melderegister als Grundgesamtheit. Insgesamt sind vier methodische Varianten zu unterscheiden, die dem Zufall mehr oder weniger Raum geben. Zunächst gibt es die reine Zufallsauswahl, bei der das Los nicht weiter beeinflusst wird und die Namen der zu Beteiligten aus dem Melderegister gezogen werden. Etwas mehr Einfluss auf den Zufall wird genommen, wenn in der gewichteten Zufallsauswahl, der zweiten Variante, der Anteil vorab definierter Gruppen erhöht wird. So kann bspw. der Anteil von Frauen erhöht werden, wenn nur jeder zweite geloste Mann berücksichtigt wird. In der dritten Variante, der gewichteten Zufallsauswahl mit definierten Quoten, werden bestimmte Gruppen gezielt gestärkt. Zudem ist es möglich, das Los nicht aus dem Melderegister, sondern aus anderen Datenquellen, wie z.B. Interessensbekundungen, zu ziehen. Sie sehen, der Zufall ist nicht immer gleich und kann erheblich beeinflusst werden.

Deshalb plädieren wir dafür, nicht von „Zufallsbürger*innen“ oder „zufällig gewählten Bürger*innen“, sondern von gelosten Personen oder gelosten Bürger*innen zu sprechen, wenn Beteiligte gemeint sind, die per Los ausgewählt wurden. Damit wird deutlicher, dass „geloste Bürger*innen“ zumeist nicht rein zufällig an einem Beteiligungsverfahren teilnehmen, sondern dass sie sich entweder nach der Auswahl durch das Los für die Teilnahme entschieden oder sie sich sogar im Vorfeld gezielt beworben haben.

Wie kann man sicherstellen, dass die so gefundenen Gruppen einigermaßen repräsentativ sind?

Repräsentativität ist nicht unbedingt das Ziel der Zufallsauswahl. Diese kann angesichts der oft kleinen Gruppen oft auch gar nicht erreicht werden. Viel wichtiger ist eine gute Mischung diverser und heterogener Stimmen, die vor allem bei komplexen Vorhaben einen Gegenpol zu den Expert*innen aus Bürgerinitiativen und anderen Interessenverbänden sein können. Um ein möglichst breites Spektrum herzustellen, ist es wichtig, dass die Auswahl bzw. das Losverfahren im Vorfeld und in der Durchführung kommunikativ begleitet werden, damit möglichst viele und unterschiedliche Menschen aufmerksam werden und Lust darauf bekommen, mitzureden und ihre Erfahrungen in den Prozess einzubringen. Auch die eigentlichen Beteiligungsangebote müssen dann natürlich so konzipiert sein, dass sie dem gewünschten breiten Bevölkerungsspektrum entsprechen. Wenn es bei akademischen Diskursformaten bleibt, hilft auch eine gut gemachte Zufallsauswahl nicht.

Was sagen Sie Bürger*innen, die sich betroffen fühlen und beteiligen wollen, aber nicht ausgelost werden?

Erst einmal: Es ist bitter. Diese Bürger*innen sind mit Recht enttäuscht. Obwohl sie Expertise haben, mitmachen wollen und engagiert sind, kommen sie nicht zum Zuge. Ihr Interesse sollte deshalb in begleitenden Veranstaltungsformaten (Online und Offline) aufgefangen werden, die Beschränktheit des Zugangs bleibt aber ein Nachteil der Methode.

Sie haben neben Ihrer wissenschaftlich-theoretischen Auseinandersetzung mit Beteiligung auch das Praxisprojekt „Planungsdialog Borgholzhausen“ begleitet. Wie sah dieser Planungsdialog genau aus und welche Rolle spielte er im gesamten Planungsprozess?

Das Difu begleitete 2018 den „Planungsdialog Borgholzhausen“ wissenschaftlich und evaluierte den informellen Beteiligungsprozess. Den Planungsdialog führte die Amprion GmbH zur Planung eines Teilabschnittes des Ausbaus der EnLAG-Verbindung Nr. 16 Gütersloh – Wehrendorf BI. 4210 im Stadtgebiet Borgholzhausen durch. Damit entschied sich die Vorhabenträgerin im Rahmen der Prüfung auf Teilerdverkabelung für eine frühzeitige Beteiligung. Ziele des „Planungsdialogs Borgholzhausen“ waren neben der Transparenz der Planung ein Einbezug lokalen Wissens sowie die Erprobung neuer Wege der Kommunikation, um das unternehmensinterne Kommunikations-Know-how zu erweitern. Besondere Bedeutung kam der Auswahl der Teilnehmer*innen des Planungsdialogs zu. Neben Vertreter*innen eines möglichst vielfältigen Interessenspektrums (gemeint sind hier Bürgerinitiative, Träger öffentlicher Belange, Verwaltung, Wirtschaft) wurde ein per Los rekrutierter Kreis von Einwohner*innen Borgholzhausens in das Gremium aufgenommen. Mit sechs gelosten Bürger*innen war diese Gruppe im Vergleich zu den anderen deutlich größer. Von der Beteiligung nicht organisierter und per Zufallsauswahl rekrutierter Personen versprach sich die Vorhabenträgerin weniger eine Repräsentativität der Beteiligten, sondern vielmehr den dezidierten Einbezug eines möglichst breiten Spektrums an Meinungen und Interessen.

Welche zentralen Erkenntnisse haben Sie aus dem Planungsdialog Borgholzhausen mitgenommen und können diese auch in anderen Kontexten Anwendung finden?

Bezogen auf die mit der Zufallsauswahl verbundenen Erwartungen ziehen wir ein weitgehend positives Fazit. Der Planungsdialog konnte zeigen, dass sich die Methode vor allem dann eignet, wenn erstens unterschiedliche Bevölkerungsgruppen und -stimmen in die Beteiligung einbezogen werden sollen und wenn zweitens das Thema bzw. das Vorhaben konfliktreich und umstritten ist. Unsere Evaluation zeigt, dass die zufällig gelosten Personen dazu beigetragen haben, die Debatten zu versachlichen und Brücken zwischen den Akteuren und Interessensfronten zu bauen.

Zurückhaltender einzuschätzen ist die Wirkung der Zufallsauswahl auf die Beteiligung bisher gering vertretener Bevölkerungsgruppen. Auch wenn das Los es schaffte, dass der Planungsdialog weiblicher und jünger wurde, zeigte sich gleichzeitig, dass die Teilnahme voraussetzungsvoll war. Auf die Interessenbekundung zur Teilnahme reagierten – so unsere Annahme – nur diejenigen, die sich vor allem aufgrund persönlicher Betroffenheit bereits mit dem Thema auseinandergesetzt hatten, sich die Mitwirkung in dem Dialog auch vorstellen konnten und über ausreichend zeitliche Ressourcen verfügten. Ein inklusives Format war der Planungsdialog keineswegs.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die Zufallsauswahl lohnt sich. Dies legen auch andere Beispiele nahe. Sie ist ein wichtiger Baustein im Methodenkoffer einer guten Beteiligung, da sie dazu beitragen kann, konkret zur Mitwirkung zu ermutigen, Zugangsschwellen herabzusetzen, Vertrauen in die Mitgestaltung aufzubauen und zu stärken. Zufallsauswahl so einzusetzen, bedeutet aber auch, Geduld, Ressourcen, Zeit und umfangreiche Expertise begleitend zur Verfügung zu stellen.

Dass sich der Aufwand lohnt, belegen bisher erst einzelne Evaluationen. Zahlreiche Fragen nach Ergebnissen und Wirkungen der Zufallsauswahl können noch nicht beantwortet werden. Deshalb plädieren wir nachdrücklich für mehr Wirkungsforschung in der Bürgerbeteiligung. Bürgerbeteiligung und ihre Evaluation sind Lernprozesse. Die Untersuchung konkreter Beispiele stärkt das Wissen über die Möglichkeiten und Einschränkungen einer Zufallsauswahl.

Zu den Personen

Dr. Stephanie Bock, Planungswissenschaftlerin und Geographin; Studium der Geographie (Soziologie, Kulturanthropologie) in Marburg und Frankfurt/Main. Sie leitet das Team „Stadt und Raum“ am Deutschen Institut für Urbanistik mit den Arbeitsschwerpunkten Governance und Bürgerbeteiligung, Evaluation und Begleitforschung.

 

 

 

Dr. Bettina Reimann, Soziologin; Studium der Soziologie und Stadtplanung in Bremen, Berlin und New York City. Sie leitet das Team „Stadt und Gesellschaft“ am Deutschen Institut für Urbanistik mit den Arbeitsschwerpunkten Migration, Bürgerbeteiligung, Evaluation und Begleitforschung.

Literaturhinweise

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Christian Huesmann, Anna Renkamp, Wolfgang Petzold

Europa ganz nah: Lokale, regionale und transnationale Bürgerdialoge zur Zukunft der Europäischen Union Forschungsbericht

Bertelsmann Stiftung Gütersloh, 2022.

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Arne Spieker

Chance statt Show – Bürgerbeteiligung mit Virtual Reality & Co. Akzeptanz und Wirkung der Visualisierung von Bauvorhaben Buch

2021, ISBN: 978-3-658-33081-1.

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Jan Abt, Bianka Filehr, Ingrid Hermannsdörfer, Cathleen Kappes, Marie von Seeler, Franziska Seyboth-Teßmer

Kinder und Jugendliche im Quartier - Handbuch und Beteiligungsmethoden zu Aspekten der urbanen Sicherheit Forschungsbericht

2021, ISBN: 978-3-88118-679-7.

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Irmhild Rogalla, Tilla Reichert, Detlef Witt

Partii - Partizipation inklusiv Forschungsbericht

2021, ISBN: 978-3-942108-20-1.

Abstract | BibTeX

Jascha Rohr, Hanna Ehlert, Sonja Hörster, Daniel Oppold, Prof. Dr. Patrizia Nanz

Bundesrepublik 3.0 Forschungsbericht

Umweltbundesamt 2019, (Ein Beitrag zur Weiterentwicklung und Stärkung der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie durch mehr Partizipation auf Bundesebene).

Abstract | Links | BibTeX

Stiftung Mitarbeit (Hrsg.)

Engagiert für Integration - Demokratische Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft Buch

2019, ISBN: 978-3-941143-38-8.

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Kirsten Fründt, Ralf Laumer (Hrg.) (Hrsg.)

Mitreden: So gelingt kommunale Bürgerbeteiligung - ein Ratgeber aus der Praxis Buch

Büchner Verlag, 2019, ISBN: 978-3-96317-158-1.

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Johannes Drerup, Gottfried Schweiger (Hrsg.)

Politische Online- und Offline-Partizipation junger Menschen Sammelband

J.B. Metzler, Stuttgart, 2019, ISBN: 978-3-476-04744-1.

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John S. Dryzek; André Bächtiger; Simone Chambers; Joshua Cohen; James N. Druckman; Andrea Felicetti; James S. Fishkin; David M. Farrell; Archon Fung; Amy Gutmann; Hélène Landemore; Jane Mansbridge; Sofie Marien; Michael A. Neblo; Simon Niemeyer; Maija Setälä; Rune Slothuus; Jane Suiter; Dennis Thompson; Mark E. Warren

The crisis of democracy and the science of deliberation Artikel

In: Science, Bd. 363, Nr. 6432, S. 1144-1146, 2019.

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Sebastian Schiek

Kasachstans autoritäre Partizipationspolitik Forschungsbericht

SWP-Studie Stiftung Wissenschaft und Politik, Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Berlin, 2019, ISBN: 1611-6372.

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Methodenhinweise

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Der Planungsworkshop unterstützt mit seinem strukturierten Ablauf und geringen Zeitanspruch Kommunen bei der Ausarbeitung eines Aktionsplans. Die Methode ist besonders geeignet für Gruppen, die bereits über eine gemeinsame Vision verfügen.

Deliberative Mapping
Beim Deliberativen Mapping entwickeln Fachleute und Bürger gemeinsam in einem konsultativen Verfahren priorisierte Handlungsalternativen zur Bearbeitung eines Konfliktthemas.

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