Wer ist hier eigentlich der Bestimmer?

Möglichkeiten und Grenzen von Partizipation in der Kindertagesstätte

Der Kindheitswissenschaftler Daniel Frömbgen beleuchtet in seinem Beitrag die Chancen eines Ausbaus demokratischer Teilhabemöglichkeiten für junge Menschen in Kindertagesstätten.

bipar - Partizipation - Demokratische Teilhabe im Kindergarten Foto: MJGDSLibrary via flickr.com , Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0

Nimmt man den „Index für Inklusion“ nach Tony Booth und Mel Ainscow zur Hand, wird schnell klar, dass Inklusion und Partizipation nicht unabhängig voneinander zu denken sind. Sie stellen eher zwei Seiten der gleichen Medaille dar, denn Partizipation dient hier als Prüffrage für das Gelingen inklusiver Prozesse in Kindertagesstätten, in dem gefragt wird: „Sind wirklich alle beteiligt?“

Dazu gehört neben den Mitarbeiter*innen und Eltern in einer Kita selbstverständlich auch die Gruppe derer, die am Zahlreichsten vertreten sind: die Kinder! Die Klärung der „urdemokratischen“ Frage wer hier eigentlich „der/die Bestimmer*in“ ist, interessiert Kinder in Kindergärten enorm. Sie sind schließlich dabei, sich ein Bild von der Welt zu machen, in der sie leben. Dafür ist es wichtig, auch etwas über die Machtverhältnisse und den eigenen Einfluss in Erfahrung zu bringen.

Sehen wir uns die demokratische Frage der Gewaltenteilung in Kindertagesstätten an, werden wir nicht selten feststellen, dass die pädagogischen Fachkräfte diejenigen sind, die das Sagen haben, also die Mächtigen sind. Auf der politischen Ebene würden wir ein System ohne Gewaltenteilung als Diktatur bezeichnen. Pädagogische Fachkräfte aber bestimmen zumeist was erlaubt ist und was nicht, wie Abläufe gestaltet sind und was wann, wo und wie gemacht wird, während sie gleichzeitig als Exekutive auftreten und Überschreitungen der von ihnen gemachten Regeln überwachen und auch gegebenenfalls sanktionieren, nach einem mitunter einigermaßen willkürlichem, weil weder festgelegten noch transparentem Sanktionskatalog. Das entspricht für die Kinder keinerlei Rechtssicherheit. „Aber ich habe doch auch die Verantwortung“ rufen pädagogische Fachkräfte nun! Stimmt, wieder zwei Seiten einer gleichen Medaille. Mit dem feinen Unterschied, dass pädagogische Fachkräfte Teile der einen Seite – nämlich Macht – an Kinder abgeben können, Verantwortung dagegen nie!

Es gilt die Frage zu klären, wo können wir (Entscheidungs-)Macht innerhalb einer Einrichtung an Kinder abgeben, ohne sie damit zu überfordern. Dafür ist es notwendig, einen Teamkonsens herzustellen, um es für die Kinder rechtssicher und verlässlich zu gestalten, damit es nicht in der Willkür jeder einzelnen erwachsenen Person liegt. Dabei ist es nachrangig, um welches Recht es zunächst geht. Vielmehr ist es für Kinder wichtig, die Erfahrung zu machen, sich überhaupt auf etwas verlassen zu können. Hannah Arendt nannte dies „Das Recht, Rechte zu haben!“ Um erste Demokratiererfahrungen machen zu können, müssen Kinder auch schrittweise an das Thema herangeführt werden und zunehmend Erfahrungen damit machen. Auch dass ein enger Zusammenhang zwischen Mitentscheiden und eigenem Engagement besteht. Die Pädagogik nennt dies „Erfahrungslernen“. Und wenn Erfahrungen zu Selbstwirksamkeitserfahrungen werden, befinden wir uns schon mitten in der Resilienzentwicklung!

Also Kitas nach dem Motto „Kinder an die Macht“ grönemeyersieren? Darum geht es mitnichten! Zum System Kindertagesstätten gehören auch weiterhin die erwachsenen Akteure, die Fachkräfte und Eltern, die auch Interessen haben. Ebenso können wir wohl kaum davon ausgehen, dass sich auch die Kinder immer alle einig sind. Zu den demokratischen Erfahrungen innerhalb einer Gemeinschaft gehören eben auch das Aushandeln von unterschiedlichen Interessen, das gegenseitige Zuhören und Argumentieren, das Überzeugen und überzeugen lassen und die Kompromissfindung, bis hin zum Erlebnis, dass meine eigene Vorstellung eben nicht immer eins zu eins umgesetzt wird, weil sie nicht immer vollständig den Interessen der Anderen in der Gemeinschaft entspricht. Es geht um das Mitentscheiden, um das praktische Erleben von demokratischer Entscheidungsfindung.

Demokratie im Kindergarten?

Dafür sind die doch noch viel zu klein! Diese adultistische Sicht auf die Kompetenzen von Kindern kann entwicklungspsychologisch einfach widerlegt werden. Schon Rolf Oerter stellte fest, „das Denken des Kindes unterscheidet sich qualitativ nicht wesentlich von dem der Erwachsenen“. Es kommt also auf die Methode an. Die Frage ist nicht ob, sondern wie?

Selbstverständlich werden die meisten Kinder wenig Interesse an den für sie eher „langweiligen“ Demokratiepraktiken der Erwachsenen finden. Es geht also darum, Mitentscheidungsprozesse methodisch so auf die kindliche Ebene herunterzubrechen, dass sie teilnehmen können ohne das Interesse zu verlieren. Aus inklusiver Sicht muss also gefragt werden: Wie muss der Prozess gestaltet sein, dass alle teilnehmen können!

Praktische Erfahrungen aus dem Modellprojekt der „Kinderstube der Demokratie“ in Schleswig-Holstein und zahlreichen Folgeprojekten in demokratischen Kitas, die über die gesamte Republik verteilt sind, zeigen zudem, dass auch die Befürchtung von pädagogischen Fachkräften, jetzt noch eine zusätzliche Aufgabe bewältigen zu müssen, nämlich auch noch demokratische Kita werden zu „müssen“, ungerechtfertigt sind. Ganz im Gegenteil: Es ist eine enorme Entlastung, nicht mehr Legislative, Exekutive und Judikative in Personalunion sein zu müssen, wenn man sich erst einmal die praktischen Handlungs- und Methodenkompetenzen angeeignet hat. Der eigene Erfahrungshorizont tut dann eh sein Übriges!

Und es werden weitere folgen, denn mittlerweile hat auch der Gesetzgeber den Benefit erkannt und koppelt in der Erweiterung des SGB VIII durch das Bundeskinderschutzgesetz in §45 SGB VIII das Vorhandensein struktureller Beteiligungs- und Beschwerdemöglichkeiten eng an die Betriebserlaubnis.

Kinderschutz?

Ja! Kinder, die selbstbewusst aufwachsen, durch Selbstwirksamkeitserfahrungen Resilienz erwerben und sich für ihre Rechte und Interessen einsetzen, sind Kinder, die sich durch „Nein“ sagen selbst schützen können, so wie es in zahlreichen Präventionsprogrammen doch auch eingeübt wird.

Und moralisch-rechtlich gesehen, sehe ich in Artikel 1 GG nicht die Menschenwürde an ein bestimmtes Alter oder einen Entwicklungsstand gekoppelt: was ist denn „würdevoller“ Umgang miteinander, wenn es nicht den Einfluss auf das eigene Leben beinhaltet?

Natürlich können sich Kinder ihre Rechte nicht selbst erkämpfen, die meisten wissen nicht einmal davon. So sind sie also auf uns Erwachsene angewiesen, ihnen Raum für ihre Rechte zuzugestehen und freiwillig auf einen Teil unserer Macht zu verzichten. Damit dies nicht zur „Gnade“ verkommt, sollten wir es ernst meinen!

Zum Autor: 

Daniel Frömbgen ist studierter Kindheitswissenschaftler und zertifizierter Multiplikator des Konzepts „Die Kinderstube der Demokratie“ durch das Deutsche Kinderhilfswerk, die Fachhochschule Kiel und das Institut für Partizipation und Bildung. Er leitete u. a. acht Jahre Kinder- und Familienzentren bei KiTa Bremen und lehrte an der Fachschule für Sozialpädagogik in Bremen zum Thema „Partizipation in Kindertagesstätten“. Zur Zeit arbeitet er als freiberuflicher Fortbildner für Kindertagesstätten.

 

Literaturhinweise

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