Lokale Klimagovernance

Interaktive Governance-Modelle in urbanen Räumen Baden-Württembergs

Adalbert Evers und Verena Schmid stellen ihr Pilotprojekt zu lokaler Klimagovernance in Baden-Württemberg vor.

Die Studie untersucht die transformative Dynamik lokaler „Klimagovernance“ in sieben Großstädten Baden-Württembergs und die Entwicklung von Interaktionsformen zwischen öffentlicher Verwaltung und Zivilgesellschaft. Sie dient der Bestandsaufnahme und dem ‚in Beziehung setzen‘ verschiedener Interaktions- und Kooperationsformen, die sich im Bereich der Klimapolitik auf lokaler Ebene finden lassen.

Wenn man von „Governance“ (regieren) statt von „Government“ (Regierung) spricht, wird der Akzent auf Prozesse des Regierungshandelns gelegt, bei denen Akteure aus dem gesellschaftlichen Bereich und aus verschiedenen Sektoren auf unterschiedliche Weise mitwirken. Das bedeutet auch, dass der Staat immer weniger als alleiniger Akteur der politischen Steuerung hervortritt (Roß 2023). Bei dem Begriff der lokalen „Klimagovernance“ geht es konkret um derartige Ausgestaltungsprozesse im Zusammenhang mit lokaler Klimapolitik. Unsere Studie fragt danach, auf welche Art und Weise sich verschiedene Akteure aktiv in das Regierungs- und Verwaltungshandeln vor Ort einbringen, eingebunden werden und ihr Verhalten anpassen, um Klimaschutzziele zu erreichen. Wir wollen herausfinden, inwieweit vor Ort neue Aktionsformen, Maßnahmen und Richtlinien – neue Formen von „Governance“ – hervortreten. In der Forschung wird zwischen verschiedenen Arten von „Governance“ unterschieden, je nachdem welche Aspekte von Governance in den Mittelpunkt gerückt werden. Unsere Studie kann als Beitrag zu „interaktiver Governance“ (Torfing et al. 2019) verstanden werden. Wir fokussieren somit auf die Interaktionen zwischen den großen Sektoren (Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft) sowie innerhalb jeder dieser Subsysteme. Die neuen Interaktionsformen, die dieser Beitrag behandelt, spielen in diesem Konzept eine wichtige Rolle. Wie interaktive Governance letztlich wirkt, wird nicht nur durch ihre Ausgestaltung im Detail, sondern auch „relational“ bestimmt – durch ihre Wirkungen im Gesamtgefüge demokratischer Politik- und Verwaltungsformen.

Im Rahmen des Projekts wurden neben der Sichtung von Dokumenten 14 leitfadengestützte Interviews mit Expert*innen aus Verwaltung und Zivilgesellschaft geführt und durch umfangreiche Internetrecherchen ergänzt. Die Datenanalyse wurde in Anlehnung an die von Charmaz (2010) entwickelte konstruktivistische Grounded Theory strukturiert, die eine solide empirische Grundlage für die Erforschung hervortretender Interaktionsformen in der lokalen Klimagovernance bietet. Die Studie zeigt ein ganzes Spektrum verschiedener Kooperationsformen, die alle auf unterschiedliche Weise zur lokalen Klimagovernance-Landschaft beitragen. Vier dominante Interaktionsformen lassen sich unterscheiden:

Dialogische Meinungsbildung und Konsultation

Zur dialogischen Meinungsbildung und Konsultation gehören etwa interaktive Bürgerversammlungen, beratende Bürgerräte und die eher initiative Beteiligung durch Bürgerbegehren. Diese Formate werden allgemein als positiv und notwendig bewertet. Teilweise gibt es in den Verwaltungen der Städte spezielle Beauftragte für Beteiligungsformen, deren Ziel es ist, die breite Bürgerschaft anzusprechen. In diesem Rahmen werden strategische und praktische Fragen verhandelt, häufig mit dem Ziel, die Bürger*innen zu informieren, ihre Vorschläge und Bedenken zum Thema zu hören und manchmal auch zwischen verschiedenen Optionen abstimmen zu lassen. Diese Beteiligungsverfahren können jedoch auch kritisch betrachtet werden. Die Bürgerseite wünscht sich häufig eine Beteiligung zu einem früheren Zeitpunkt, zu dem das gesamte Verfahren noch offener ist. Die Verwaltungsseite beklagt immer wieder den Aufwand der Verfahren. Vielerorts haben sich auch Klimabeiräte gebildet, die beratend tätig sind. Mit der Einrichtung eines solchen Beirates ist von Seiten der Stadt die Hoffnung verbunden, externe Expertise und neue Impulse zu erhalten. All diese Formate sind ein wesentlicher Bestandteil einer an der breiten Bürgerschaft orientierten Stadtpolitik.

Einflussnahme auf Entscheidungsträger*innen und öffentliche Meinung

Unsere Forschung bekräftigt, dass die Einflussnahme auf Entscheidungsträger*innen und die Gestaltung der öffentlichen Meinung zentrale Bestandteile einer wirksamen Klimapolitik sind. Öffentlichkeitsarbeit ist dabei ein strategisches Instrument, das sowohl von politischen Akteuren als auch von der Zivilgesellschaft genutzt wird, um auf die Dringlichkeit des Klimaschutzes aufmerksam zu machen und den notwendigen gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen. Kampagnen wie „Tübingen macht blau“ oder „Grüne Stadt Karlsruhe“ zeigen dabei das Potenzial von Kommunikationsstrategien, um klimafreundliche Visionen zu vermitteln und kollektives Handeln anzustoßen, das in der gesamten Stadtgesellschaft verankert ist. Die Foren hierfür sind vielfältig. Das können thematische Veranstaltungen, Aktionstage und Festivals sein oder zivilgesellschaftliche Projekte mit Außenwirkung. Zunehmend bedeutend ist auch die Rolle der sozialen Medien. In manchen Städten wird z. B. mit einer Bürger*innen App gearbeitet, um darüber tagesaktuell die Meinung zu bestimmten Vorhaben einzuholen.

Stakeholder-Beteiligung

Bei der Stakeholder-Beteiligung, wie sie in unserer Studie erläutert wird, steht die differenzierte Einbindung unterschiedlicher Interessengruppen im Vordergrund. Besonders betroffene Akteure erhalten bei dieser Form der Beteiligung ein zusätzliches besonderes Mitspracherecht bei der Entwicklung und Umsetzung von Klimaschutzstrategien. Es geht um jene Akteure aus Wirtschaft und Stadtgesellschaft, auf deren Mitarbeit und Einverständnis die Verwaltung besonders angewiesen ist. Kooperationsfelder sind beispielsweise der Ausbau erneuerbarer Energien oder die CO2-Reduktion im Verkehrsbereich. Die empirische Analyse verdeutlicht, dass eine effektive Stakeholderbeteiligung für die Umsetzung von Klimaschutzkonzepten zentral ist. Der „Ulmer Initiativkreis Nachhaltiges Wirtschaften“ zeigt beispielhaft, wie durch eine aktive Vernetzung von Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft die Grundlagen für eine nachhaltige Entwicklung geschaffen werden können. Allerdings stößt diese Form der Partizipation dort an ihre Grenzen, wo relevante Akteure sich nicht beteiligen oder – etwa wegen der Heterogenität der Beteiligten und ihrer Interessen und Erwartungen – die Entwicklung gemeinsamer, umsetzbarer Lösungen nicht gelingt.

Die „Koproduktion“ für die Umsetzung von Maßnahmen

Der Begriff beschreibt eine Mitträgerschaft der Bürger*innen von Maßnahmen und Projekten – durch ein entsprechendes Konsumverhalten oder sogar eigene Ko-investitionen. Die „Koproduktion“ tritt als ein weiteres Modell der Zusammenarbeit zwischen Bürger*innen und Verwaltung hervor. Unsere Untersuchung zeigt, dass dies eine immer wichtigere Rolle in der lokalen Klimapolitik spielt. Die „Koproduktion“ umfasst sowohl die Beratung und Bereitstellung von Anreizen zur Umsetzung von z. B. Photovoltaikanlagen als auch die Förderung von Gemeinschaftsinitiativen zur Begrünung von Quartieren. Auch die Energieagenturen in Baden-Württemberg wurden hier als Schlüsselakteure identifiziert, die durch direkte Interaktion und die Entwicklung individueller Lösungen einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen dieser Ansätze leisten. Der Vorteil solch lokaler Ansätze gegenüber Programmen auf Bundes- und Landesebene kann in der direkten Ansprache und der Entwicklung von auf die jeweilige örtliche Situation zugeschnittener Lösungen liegen.

Die Studie thematisiert und bewertet Beteiligung und Kooperation, als ein Ensemble verschiedener und mitunter divergierender Interaktionsmuster, als ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Formate und Mechanismen. Manche dienen dem Austausch oder der Information, um eine gemeinsame Basis für eine mögliche Zusammenarbeit zu schaffen, andere wiederum zielen auf bis ins Detail gehende Absprachen.

Eine interaktive Orientierung von Governance scheint als ein Schritt der Anpassung an andere gesellschaftliche Verhältnisse, die sich immer weniger hierarchisch „steuern“ lassen, unverzichtbar zu sein. Wir erachten es daher als zentral, die Bandbreite der Interaktionsformen vor Ort auszuschöpfen, um eine breite Beteiligung der gesamten Stadtgesellschaft zu ermöglichen. Je früher und vielfältiger die Zusammenarbeit stattfindet wird, desto mehr Synergien und Ressourcen können für die gemeinsame Zielerreichung genutzt werden. Allerdings kann der Einbezug von immer mehr Akteuren und die damit einhergehende Formalisierung und Verrechtlichung von Ansprüchen, Prozesse der Willensbildung und praktischen Umsetzung auch verlangsamen oder gar lähmen. Gerade deshalb ist eine Reflexion der Interaktionsformate zentral. Beteiligung sollte kein Selbstzweck sein, sondern so gestaltet werden, dass durch eine Kombination verschiedener Formate die Talente der Beteiligten genutzt werden.

Eine ausführlichere Darstellung finden Sie in unserem Working Paper.

Literatur

Charmaz, K. 2010: Constructing grounded theory. A practical guide through qualitative analysis. Repr. Los Angeles, Calif. [u.a.]: Sage Publications Ltd.

Roß, P. S. 2023: Governance-Perspektive: Nutzen für die Praxis der Steuerung lokaler Daseinsvorsorge. Handlungsbezogene Orientierungen, in: Gonser, M. und V. Schmid (Hrsg.) Intersektorale Governance. Neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft, Waxmann, S. 31-53.

Torfing, J./ Peters, G. G./ Pierre, J./ Soerensen, E. 2019: Interactive governance: Advancing the paradigm. Oxford University Press (2. Auflage paperback; ersch. 2012).

Zu den Autor*innen:

Dr. Verena Schmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Intersectoral School of Governance BW, DHBW CAS und betreut den Bereich Forschung. In ihren aktuellen Forschungsprojekten beschäftigt sie sich mit lokaler Klimagovernance und den Gelingensbedingungen intersektoraler Dialogformate. 2021 schloss sie ihre Promotion zu Dynamiken lokaler Flüchtlingshilfe im Spannungsfeld zwischen Staat und Zivilgesellschaft an der Universität Heidelberg ab.

Adalbert Evers, Dr. rer. pol., Senior Fellow am CSI (Centrum für soziale Investitionen und Innovationen) der Universität Heidelberg, war Professor für vergleichende Gesundheits- und Sozialpolitik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Im Zentrum seiner Forschungsarbeit und zahlreicher Publikationen stehen Fragen der Kooperation von Zivilgesellschaft und institutionalisierter Politik, soziale Innovationen, bürgerschaftliches Engagement und Konzepte einer demokratischen Governance, insbesondere auf lokaler Ebene.

 

Literaturhinweise

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Jan-Hendrik Kamlage; Patrizia Nanz; Ina Richter

Ein Grenzgang - Informelle, dialogorientierte Bürgerbeteiligung im Netzausbau der Energiewende Buchabschnitt

In: Jörg Sommer (Hrsg.): Kursbuch Bürgerbeteiligung #2, Verlag der Deutschen Umweltstiftung | bipar, Berlin, 2017, ISBN: 978-3942466-15-8.

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Christine Grüger

Für und Wider der Partizipation in städtebaulichen Wettbewerbsverfahren Buchabschnitt

In: Jörg Sommer (Hrsg.): Kursbuch Bürgerbeteiligung #2, Verlag der Deutschen Umweltstiftung | bipar, Berlin, 2017, ISBN: 978-3942466-15-8.

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Elisabeth Leicht-Eckardt; Marcia Bielkine; Daniel Janko; Daniel Jeschke; Kathrin Kiehl; Dirk Manzke

Urbane Interventionen - Impulse für lebenswerte Stadträume in Osnabrück Buchabschnitt

In: Jörg Sommer (Hrsg.): Kursbuch Bürgerbeteiligung #2, Verlag der Deutschen Umweltstiftung | bipar, Berlin, 2017, ISBN: 978-3942466-15-8.

Abstract | Links | BibTeX

Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hrsg.)

Webbasierte Medien in der Stadtentwicklung: Bürgerbeteiligung und Bürgerengagement in der digitalen Gesellschaft Artikel

In: 2017, ISSN: 1868-0097.

Links | BibTeX

Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) (Hrsg.)

Die Weisheit der Vielen - Bürgerbeteiligung im digitalen Zeitalter Forschungsbericht

2017, ISBN: 78-3-87994-191-9.

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Hans J. Lietzmann; Saskia Dankwart-Kammoun; Anna Nora Freier

Das partizipative Reallabor - Gestalten Bürger ihre Energiewende? Buchabschnitt

In: Jörg Sommer (Hrsg.): Kursbuch Bürgerbeteiligung #2, Verlag der Deutschen Umweltstiftung | bipar, Berlin, 2017, ISBN: 978-3942466-15-8.

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Lars Holstenkamp; Jörg Radtke

Finanzielle Bürgerbeteiligung in der Energiewende Buchabschnitt

In: Jörg Sommer (Hrsg.): Kursbuch Bürgerbeteiligung #2, Verlag der Deutschen Umweltstiftung | bipar, Berlin, 2017, ISBN: 978-3942466-15-8.

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Susanne Menge

Bürgerbeteiligungsverfahren in Großbauprojekten am Beispiel "Dialogforum Schiene Nord" Buchabschnitt

In: Jörg Sommer (Hrsg.): Kursbuch Bürgerbeteiligung #2, Verlag der Deutschen Umweltstiftung | bipar, Berlin, 2017, ISBN: 978-3942466-15-8.

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Dirk Kron

Das "Feuer großer Gruppen" - mit Großgruppen durch Konflikte gehen Buchabschnitt

In: Jörg Sommer (Hrsg.): Kursbuch Bürgerbeteiligung #2, Verlag der Deutschen Umweltstiftung | bipar, Berlin, 2017, ISBN: 978-3942466-15-8.

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Birgit Böhm; Christiane Sell-Greiser

Jugendbeteiligung im ländlichen Raum muss neu gedacht werden Buchabschnitt

In: Jörg Sommer (Hrsg.): Kursbuch Bürgerbeteiligung #2 , Verlag der Deutschen Umweltstiftung | bipar, Berlin, 2017, ISBN: 978-3942466-15-8.

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