Generation Online
Ein Interview mit Jürgen Ertelt über E-Partizipation für Jugendliche
Neben den herkömmlichen Offline-Beteiligungsverfahren finden sich immer häufiger E-Partizipationsangebote. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung allgemein?
Die Kommunikationsmöglichkeiten haben sich durch digitale Medien und Internet stark erweitert. Viele Informationen lassen sich durch multimediale Aufbereitung, vom Erklärclip bis zur Virtual Reality-Simulation, verständlicher vermitteln. Jederzeit frei zugängliche, qualitätsgesicherte Informationen als Basis von Beteiligung können in dialogische Verfahren einfließen, die strukturierte und transparente Aushandlungen auf einladende Online-Plattformen ermöglichen. Der mediale Kommunikationswandel erfordert verschiedene Zugänge und eine begleitende Öffentlichkeitsarbeit. Offene netzbasierte Interaktionsangebote und Social Media sind geeignet, mehr Menschen anzusprechen und zu motivieren, für ihre Anliegen einzutreten und ihre Interessen zu argumentieren. Dabei muss nicht explizit eine spezielle E-Partizipationssoftware die Bürger*innenbeteiligung abbilden, – verschiedene, dem Aushandlungsgegenstand entsprechende, passgenaue (Online-) Werkzeuge können den Beteiligungsprozess optimierend begleiten. Produktive digitale Medien wie 360 Grad – Kameras oder Foto-Drohnen können diverse Perspektiven, Aneignungen und Meinungen elektronisch befördern. Kommunikation unterstützende digitale Produktionstechnik sollte m. E. zu einem erweiterten Portfolio der E-Partizipation zählen, das sich nicht auf Software und Online begrenzt. Gleichwohl sind weiterhin hybride Zugänge und Verfahren der Beteiligung notwendig: Formate wie z. B. das „Barcamp“ oder „Hackathons“ sind geeignet, on- und offline gewinnbringend zu verknüpfen. Bürger*innenbeteiligung ohne „E“ geht an den digitalen Potenzialen und am medialen Alltag des Souveräns vorbei und verspielt sträflich weitere Optionen der Demokratiestärkung.
Junge Menschen gelten als besonders digital affin. Gleichzeitig kursiert bisweilen der Vorwurf einer unpolitischen Jugend. Ist E-Partizipation ein probates Mittel zur politischen Aktivierung junger Menschen?
Die Jugend ist per se nicht unpolitisch, sie muss nur mehr auf ihren Kommunikationsebenen gefragt werden.
E-Partizipation im Verständnis einer Prozessunterstützung durch digitale Medien und Internet entspricht den Anforderungen der Alltagskommunikation. Gerade Jugendliche interagieren selbstverständlich mit elektronischen Kommunikationsgeräten und vernetzenden Softwareangeboten. Der Weg über ihre Kommunikationskanäle erleichtert wieder den Zugang von Akteuren aus Politik und Verwaltung zu einer sonst schwer einzubeziehenden Ansprechgruppe. Die junge Generation hat, nicht nur aus demografischen Gründen, einen Anspruch, mehr Raum für ihre Anliegen nutzen zu können. Sie brauchen Platz für ihre audiovisuellen Mitteilungsformate – von Youtube bis Snapchat – um eine jugendgerechte Lautstärke zu erzeugen. Spielerische Zugänge über z. B. in „Minecraft“ entworfene Städteplanungen oder selbst programmierte Lösungen für Herausforderungen der digital geprägten Gesellschaft sollten Teil einer ernsthaften Jugendbeteiligung sein. Weiterhin sind im jungen Experimentierfeld einer wachsenden Beteiligungskultur verlässliche Regeln und wirksame Abläufe notwendig, um keine ansteigende Politikverdrossenheit zu provozieren. Thematische Betroffenheit, regionaler Bezug und ehrliche Anerkennung der digitalen Initiativen der Jungen sind tragende Faktoren für gelingende Beteiligung Heranwachsender. Wo es leichtzunehmende Zugänge für die Anliegen junger Menschen gibt, steigt deren Interesse, sich meinungsstark einzubringen. Die Jugend ist per se nicht unpolitisch, sie muss nur mehr auf ihren Kommunikationsebenen gefragt werden. Somit wird Jugendbeteiligung gleichwohl zum Beschleuniger von politischer Bildung und bürgerschaftlichem Engagement. Das Projekt jugend.beteiligen.jetzt setzt auf mehr Multiplikator*innen für mehr digitale Jugendbeteiligung.
Welche Chancen und Herausforderungen sehen Sie bei dem Versuch, die Bürger stärker digital in politische Prozesse auf europäischer Ebene einzubinden?
Leider ist Europa für viele Menschen weiterhin ein sehr abstraktes Gebilde. Mein Arbeitgeber IJAB.de bemüht sich seit Jahrzehnten um mehr Angebote für Fachkräfte und Jugendliche, die Europa erfahrbar machen. Dazu gehören u. a. Auslandsaufenthalte, Begegnungen und Workcamps. Abgesehen von Sprachbarrieren gilt es Vorurteilen und nationalistischen Tendenzen entgegenzuwirken, die sich mit unverhältnismäßiger Präsenz im Netz zeigen. Sprache wird durch helfende Angebote im Internet leichter anwendbar; (politischer) Austausch auf Augenhöhe mit bürokratischen Gebilden scheitert eher an emotionaler Ferne und nüchternen Kommunikationsrahmen. Tatsächlich ist mehr digitale Jugendbeteiligung ein europäisches Thema, das in EU-Netzwerken und auf internationalen Konferenzen Diskurs und Förderung findet. Bei europäischer Bürger*innenbeteiligung wird es noch schwieriger unterschiedliche Services für unterschiedliche Zugänge für verschiedene Mentalitäten und Erwartungen zu offerieren. Hier fallen der Transparenz des Verfahrens und eine valide Informations- und Öffentlichkeitsarbeit eine voraussetzende Rolle zu. Ein „open government“ kann gerade europäisch nur durch die frühe (politische) Einbeziehung der nachwachsenden Generationen erreicht werden. Das ist anstrengend anspruchsvoll, aber unverzichtbar.
Zur Person
Jürgen Ertelt ist Sozial- und Medienpädagoge. Als Webarchitekt realisiert er Konzepte für die Bildungsarbeit mit vernetzten digitalen Medien und engagiert sich politisch zu Herausforderungen des Internets mit Blick auf Demokratie, Staat und Gesellschaft. Er arbeitet als Koordinator bei www.ijab.de im Gemeinschaftsprojekt www.jugend.beteiligen.jetzt.
Literaturhinweise
Bürgerbudgets in Deutschland. Formen, Bedeutung und Potentiale zur Förderung politischer Teilhabe und bürgerschaftlichem Engagements Forschungsbericht
Berlin Institut für Partizipation 2021, ISBN: 978-3942466-48-6.
Politische Teilhabe von Migrantinnen*selbstorganisationen mit Fokus auf ihre Lobby- und Gremienarbeit Forschungsbericht
DaMigra e.V. – Dachverband der Migrantinnenorganisationen 2020, ISBN: 978-3-9819672-2-7.
Digitale Medien, Partizipation, Ungleichheit. Eine Studie zum sozialen Gebrauch des Internets Buch
Springer VS, Wiesbaden, 2019.
Bundesrepublik 3.0 Forschungsbericht
Umweltbundesamt 2019, (Ein Beitrag zur Weiterentwicklung und Stärkung der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie durch mehr Partizipation auf Bundesebene).
Schwindendes Vertrauen in Politik und Parteien Forschungsbericht
2019.
Engagiert für Integration - Demokratische Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft Buch
2019, ISBN: 978-3-941143-38-8.
Das Prinzip Haltung: Warum gute Bürgerbeteiligung keine Frage der Methode ist Buchabschnitt
In: Jörg Sommer (Hrsg.): KURSBUCH BÜRGERBETEILIGUNG #3, Republik Verlag, Berlin, 2019, ISBN: 978-3942466-37-0.
Kasachstans autoritäre Partizipationspolitik Forschungsbericht
SWP-Studie Stiftung Wissenschaft und Politik, Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Berlin, 2019, ISBN: 1611-6372.
Bürgerbeteiligung bei der Endlagersuche für Atommüll - Ein externer Blick unabhängiger Mediationsexpert*innen Buchabschnitt
In: Jörg Sommer (Hrsg.): Kursbuch Bürgerbeteiligung #2, Verlag der Deutschen Umweltstiftung | bipar, Berlin, 2017, ISBN: 978-3942466-15-8.