Bürgerräte und Missverständnisse

Ein kritischer Einwurf

Missverständnis 3: Bürgerräte verbinden Bevölkerung und Politik

„Um Vertrauen und Verbindung zwischen Politik und Bevölkerung zu stärken, wird in Deutschland ein vielversprechendes Demokratie-Instrument diskutiert und bereits angewandt: Losbasierte Bürgerräte“ (Mehr Demokratie 2021: 4). Das mag sein, pauschal aber stimmt es nicht. Ein Bürgerrat ist durchaus ein Raum, in dem sich Bürger*innen im Kontakt zu Politiker*innen erleben können. Und umgekehrt. Das kann Vorurteile aufweichen und Vertrauen festigen. Aber an einem deutschlandweiten Bürgerrat nehmen nur 0,0002 Prozent der Bevölkerung teil. Die Wahrscheinlichkeit ausgelost zu werden, liegt bei 1:500.000. Bei einem Bürgerrat kommt ein Querschnitt der Bevölkerung zusammen, aber eben nicht die Bevölkerung. Der bleibt nichts anderes übrig, als den Gelosten und dem Beteiligungsprozess ebenso blind zu vertrauen wie den Mandatsträger*innen der parlamentarischen Demokratie. Es könnte sogar sein, dass ein Bürgerrat sich kontraproduktiv auf die Verbindung zwischen Bevölkerung und Politik auswirkt, dann nämlich, wenn der Bürgerrat alle anderen Bemühungen, die allgemeine Öffentlichkeit zu beteiligen, ersetzt und der Diskurs aus der Öffentlichkeit herausgehalten, also im Bürgerrat bewusst oder unbewusst weggeparkt wird.

Für eine stärkere Verbindung von Bevölkerung und Politik muss ein Bürgerrat rückkoppeln in die Bevölkerung. Das ist bei einem kommunalen Bürgerrat, bei dem es beispielsweise um ein strittiges Projekt geht, das schon lange diskutiert wird und allgemein bekannt ist, gut denkbar. Werden die Empfehlungen umgesetzt und wird das öffentlich wahrgenommen, könnte dies das Vertrauen auch vieler Bürger*innen in die politischen Institutionen tatsächlich stärken. Auf Landes-, mehr noch auf Bundesebene ist das schon schwieriger. Sollen Bürgerräte jedenfalls tatsächlich dazu beitragen, Bevölkerung und Gewählte stärker zu verbinden, ist dies als Aufgabe zu verstehen, die mit einem Bürgerrat noch nicht erfüllt ist, sondern sich auch nach einem Bürgerrat stellt.

Missverständnis 4: Der Bürgerrat Demokratie bewertet Bürgerräte höher als die direkte Demokratie

Stimmt. Bei dem ersten Bürgerrat auf Bundesebene, den Mehr Demokratie e. V. 2019 zur Demokratieentwicklung veranstaltet hat, haben die Ausgelosten die Forderung nach einer Etablierung von Bürgerräten höher bewertet als die Einführung des bundesweiten Volksentscheids (Mehr Demokratie 2019: 27). Aber daraus die politische Schlussfolgerung zu ziehen, dies sei für die Bevölkerung repräsentativ, ist unlauter. Diejenigen, die hier abgestimmt haben, waren mitten in einem Bürgerrat. Das heißt: 100 Prozent der 160 Ausgelosten haben einen Bürgerrat erlebt, aber nur 35 Prozent von ihnen hatten je die Gelegenheit, die direkte Demokratie zu erleben; 65 Prozent kamen aus Bundesländern, in denen es nie einen Volksentscheid gab. Es ist so, als würde man jemanden auf ein Eis einladen und während der noch schleckt, fragen, ob er regelmäßig ein solches Eis oder doch lieber Granita haben will, was auch kalt und süß ist, aber von dem er oder sie noch nie gehört hat.

Die Missverständnisse erschweren demokratiepolitische Entwicklungen

Mit solchen Missverständnissen werden Bürgerräte überhöht. Das allein wäre kaum die Aufregung wert. Wird aber gleichzeitig eine Bürgerbeteiligung, die allen Menschen offensteht, vernachlässigt oder gar die direkte Demokratie, mit der sich das Mitbestimmungsrecht für alle Menschen stärken ließe, ausgeblendet, könnten diese Missverständnisse notwendige demokratiepolitische Entwicklungen erschweren.

Zwei Beispiele:  Wolfgang Schäuble, der Schirmherr des Bürgerrates „Deutschlands Rolle in der Welt“ nutzt die Bürgerräte für genau diesen Ausfallschritt: „Wir müssen unsere parlamentarische Demokratie zukunftsfähig machen.“ Dabei könne der Bürgerrat hilfreich sein – „eine Art Kompromiss zwischen einer reinen parlamentarischen Demokratie und einer mit Plebisziten“. Schäuble beschreibt treffend den Wert von Bürgerräten vor dem Hintergrund der mangelnden Repräsentanz des Bundestages: „Wenn immer mehr Abgeordnete dieselben Karrieren haben, erst Studium, dann Mitarbeiter bei einem Abgeordneten oder einer Fraktion, dann selber Abgeordneter, dann finde ich das zunehmend bedenklich. Wir brauchen vielerlei Erfahrungen und unterschiedliche Qualifikationen, immer auch neue Impulse – und da sind wir wieder bei den Bürgerräten.“ Er sei aber „weiterhin kein Freund von Volksentscheiden auf Bundesebene“. (Roßmann 2020) „Weiterhin“, sagt er, also: nach wie vor. Das Erlebnis von Bürgerräten, die er als artenreichen Ratgeber für die Monokultur im Parlament durchaus schätzen kann, hat ihn nicht dazu gebracht, allen Menschen zuzutrauen und in der Folge zuzugestehen, den politischen Entscheidungsprozess mitzubestimmen. Das Beispiel zeigt, wie Bürgerräte von Parteien und Parlamenten als Hintertür genutzt werden, um der Forderung nach einem Ausbau der direkten Demokratie zu entkommen.

Annalena Baerbock hat kurz nach ihrer Nominierung als Kanzlerkandidatin der Grünen vorgeschlagen, die Legislaturperiode des Bundestages zu verlängern. Die damit verbundene Einbuße an politischer Einflussmöglichkeit solle mit Bürgerräten ausgeglichen werden (SPIEGEL 2021). Eine Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre würde bei durchschnittlicher Lebenserwartung drei Wahlen weniger bedeuten und damit eben auch drei Mal weniger die Möglichkeit, Bundespolitik beeinflussen zu können. Da wird also am Wahlrecht für die gesamte Wählerschaft gekratzt, die dann darauf hoffen darf, wie bei einer Demokratie-Tombola ein Quäntchen Gestaltungsrecht zurückzugewinnen. Mit anderen Worten: Mit Bürgerräten lassen sich die Einbußen an Gestaltungsmacht auf der Bürgerseite nicht ausgleichen. Eine Verlängerung der Wahlperiode wäre nur akzeptabel, wenn – wie in allen Bundesländern – zwischen den Wahlen die Möglichkeit bestünde, mit der direkten Demokratie Einfluss nehmen zu können. Dafür aber müsste der bundesweite Volksentscheid eingeführt werden, von dem sich die Grünen mit ihrem neuen Grundsatzprogramm 2020 bewusst verabschiedet haben. Was Baerbock vorschlägt, läuft jedenfalls nicht auf mehr, sondern auf weniger Demokratie hinaus.