Bürgerräte und Missverständnisse

Ein kritischer Einwurf

Bürgerräte haben Konjunktur – und ihre Berechtigung. Mitunter aber werden sie überhöht. Ralf-Uwe Beck wirft einen kritischen Blick auf die Grenzen von Bürgerräten.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Auszug aus dem KURSBUCH BÜRGERBETEILIGUNG #5.

Bürgerräte haben den Anspruch, einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung zu versammeln. Dafür werden Menschen, die bereit sind, sich auf ein solches Verfahren einzulassen, so lange ausgelost, bis dieser Querschnitt erreicht ist. Diese Repräsentativität kann sonst kein Beteiligungsformat einlösen. Das macht die Bürgerräte so besonders. Deshalb könnten Regierung oder Parlament, wenn sie einen Bürgerrat einberufen, einigermaßen verlässlich ermitteln, wie die Bevölkerung über ein Problem denkt und welche Lösungen sie akzeptieren würde. Ein Bürgerrat kann also den Diskurs bereichern, kann Blockaden in der Auseinandersetzung zwischen Politik und Bevölkerung lösen und – wenn die Ergebnisse ernst genommen werden – zu notwendigen politischen Entscheidungen ermutigen, im Idealfall sogar für bessere politische Entscheidungen sorgen.

Je überzeugender Bürgerräte als Ratschlag sein mögen, umso häufiger und lauter wird nach ihnen gerufen. In dieser Begeisterung werden sie mitunter als Allheilmittel für die Schwächen des parlamentarischen Systems missverstanden. So wird der Eindruck vermittelt, mit Bürgerräten ließe sich erreichen, was mit einem Ausbau der Bürgerbeteiligung und der direkten Demokratie einzulösen ist: Jeder Mensch soll die politischen Entscheidungen, die ihn betreffen, beeinflussen können. Jeder Mensch, nicht nur eine – wenn auch repräsentative – Gruppe. Die Überhöhung der Bürgerräte könnte also der eigentlichen Aufgabe das Wasser abgraben, sich diesem Versprechen der Demokratie zu nähern. Es gilt deshalb, den Überhöhungen zu widersprechen.

Missverständnis 1: Bürgerräte stärken die Demokratie

Menschen, die an Bürgerräten teilnehmen durften, äußern sich beglückt und bewegt: Mit anderen ins Gespräch zu kommen, denen man sonst aus dem Weg geht, bereichert. Zu erleben, dass die eigene Meinung zählt, beflügelt. Folgerichtig wünschen sie sich „Bürgerräte für alle“ oder geben sich erleichtert: „Unsere Demokratie lebt doch noch“ (Mehr Demokratie 2021: 23). Sie stilisieren die Bürgerräte damit zur Messlatte für die Demokratie selbst. Menschen, die an Bürgerräten teilgenommen haben, können authentisch für Bürgerräte eintreten, aber Kronzeugen für eine lebendige Demokratie sind sie damit noch lange nicht. Denn wie es um die Demokratie bestellt ist, entscheidet sich daran, ob und wie alle Menschen sich einbringen können. Es „ist die Annahme plausibel, dass die Einbeziehung von Mini-Öffentlichkeiten in den politischen Prozess zu substantiell besseren Ergebnissen führen würde. Trotzdem hat eine qualitativ hochwertige Deliberation an sich nichts mit Demokratie zu tun“ (Lafont 2021: 193f). Dies wäre erst gegeben, wenn der gesamten Bevölkerung angeboten würde, einen ebensolchen Erkenntnisprozess zu durchlaufen wie in einem Bürgerrat, verbunden mit der Option, falls notwendig, auch selbst über die Ergebnisse zu entscheiden. Bis dahin geben Bürgerräte „einen faszinierenden Ausblick auf das, was in einer politischen Gemeinschaft zu einer bestimmten Zeit realistischerweise wohlüberlegte öffentliche Meinung werden kann“ (Lafont 2021: 235). Aber eben noch nicht ist. Aussagen, mit Bürgerräten ließe sich die Demokratie stärken, oder vollmundige Slogans wie „Bürgerräte – Demokratie für alle!“ führen eher in die Irre, als richtungweisend zu sein. Für eine Stärkung der Demokratie wäre in der Fläche auf Diskurs zu setzen, der wie bei Bürgerräten auf ausgewogenen Informationen basieren und gut moderiert werden sollte. „Das Bekenntnis zur Demokratie besteht einfach in der Einsicht, dass es keine Abkürzungen gibt“ (Lafont 2021: 235).

Missverständnis 2: Bürgerräte gleichen die Mängel der direkten Demokratie aus

Dieser Irrtum hat sich am deutlichsten bei den Grünen festgesetzt. Die Partei hat nach 40 Jahren die direkte Demokratie aus ihrem Grundsatzprogramm gestrichen und ausdrücklich dafür Bürgerräte aufgenommen. Gisela Erler, bis 2021 grüne Staatsrätin für Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg, bringt es am Ende ihrer Amtszeit auf die Formel: „Volksentscheide polarisieren. … Ein Bürgerrat sucht immer nach Lösungen“ (Erler 2021). Hier wird das Gespenst des Populismus der direkten Demokratie angeheftet und den Bürgerräten der Heiligenschein aufgesetzt. Dabei ist die direkte Demokratie durchaus ein Kraut, das dem Populismus gewachsen ist. Bürger- und Volksbegehren versachlichen, laden alle Menschen ein, die gestellte Frage zu diskutieren, verbreitern und vertiefen die Auseinandersetzung. Dies kann durch lange Fristen, die Unterschriftensammlung, die nur auf der Straße möglich ist, durch Alternativen, die mit zur Abstimmung gestellt werden können, und durch ausgewogene Informationen vor einer Abstimmung befördert werden. Dabei zeigt sich, wie plural die Bevölkerung ist. Das homogene Volk jedenfalls, von dem Rechtspopulisten faseln, ist eine Schimäre. Auch für die Schweizer direkte Demokratie, deren Volksentscheide über das Minarettverbot oder die Ausschaffungsinitiativen in Deutschland immer wieder als Beispiele für den Populismusvorwurf zitiert werden, wird das Fazit gezogen: „Die direkte Demokratie ist kein Steilpass für Populist*innen. Im Gegenteil, sie kann die populistische Logik – und deren Erfolg – konstant untergraben“ (Stojanovic 2019: 82). Das können Bürgerräte auch, aber eben nur am Besprechungstisch der wenigen Ausgelosten.

Richtig ist, dass Bürgerräte, werden sie in direktdemokratische Verfahren eingebaut, die antipopulistische Wirkung der direkten Demokratie verstärken können. Das wäre beispielsweise mit dem Modell aus Oregon möglich: Hier befasst sich ein Bürgerrat mit den Inhalten eines Volksbegehrens und dokumentiert die Diskussion. Das Ergebnis geht dann per Bürgerbrief an alle Stimmberechtigten. Das kann allen helfen, die zur Abstimmung eingeladen sind, also wirklich allen, sich ihre Meinung zu bilden (Stojanovic 2019: 79). Auch ein Bürgerrat, der eine Alternative ausarbeitet, die nach einem erfolgreichen Volksbegehren mit zur Abstimmung gestellt wird, könnte die direkte Demokratie bereichern.

Der Bürgerrat hat bei den genannten Beispielen eine Dienstleistungsfunktion, er kann aber nie und nimmer die direkte Demokratie ersetzen. Wenn die Bürgerräte mit der direkten Demokratie mithalten sollen, müssten sie das Selbst- und Mitbestimmungsrecht aller Menschen stärken. Davon kann keine Rede sein. Der Schweizer Politikwissenschaftler Andi Gross gar sieht Bürgerräte und direkte Demokratie so verschieden wie „Sackhüpfen und Weitsprung“.