Bürgerräte für einen besseren Dialog

Ein Interview mit Katharina Liesenberg von "es geht LOS"

Katharina Liesenberg stellt die Idee und das Konzept der Bürgerräte vor. Sie geht dabei auf das wichtige Element der Zufallsauswahl bei der Bildung gemeinwohlorientierter Ergebnisse ein.

Foto: Tim Ellis via flickr.com, Lizenz: CC BY-NC 2.0

Frau Liesenberg, mit der Organisation „es geht LOS“ setzen Sie sich für die Etablierung von Bürgerräten ein. Was steckt hinter dieser Idee und auf welche Weise kann das Konzept zur Stärkung der Demokratie beitragen?

In Bürgerräten werden die Teilnehmenden per Zufallsauswahl ausgewählt. Das Los bestimmt, wer mitmacht! Diese Ideen stammt aus dem antiken Athen und ist seit einigen Jahren sowohl national als auch international von steigender Relevanz. In einem Bürgerrat beraten die Ausgelosten gemeinsam eine bestimmte politische Fragestellung. Es ist kein Vorwissen nötig, denn Expert*innen begleiten den Prozess. Außerdem gibt es professionelle Moderationen. Die Teilnehmenden arbeiten in wechselnden Kleingruppen und erstellen so gemeinsam eine Handlungsempfehlung, die dem entsprechenden Parlament vorgelegt wird. Bürgerrate tagen zwischen zwei Tagen und fünf Wochenenden, je nach Fragestellung und Größe der Gruppe. In repräsentativen Demokratien funktionieren Bürgerräte also als ergänzendes, beratendes Gremium zu den gewählten Organen. Bürgerräte tragen dabei zur Stärkung der parlamentarischen Demokratie bei, weil sie Bürger*innen nachhaltig in die politische Entscheidungsfindung integrieren. Wahlkampfmodus, Macht- und Lobbyinteressen spielen in Bürgerräten eine untergeordnete Rolle. Sie bilden die verschiedenen Interessen der Gesellschaft ab und eignen sich insbesondere für Themen, die von Parlament und Regierung nicht ausreichend behandelt werden. Bürgerräte fungieren als Brücke zwischen Politik und Gesellschaft.

Die Zufallsauswahl ist nur eine von zahlreichen Möglichkeiten bei der Selektion von Formatteilnehmern. Wieso setzen Sie speziell auf dieses Instrument?

Die Zufallsauswahl ermöglicht eine diverse Zusammensetzung der Teilnehmenden und soll helfen, unterschiedliche Positionen an einen Tisch zu bringen. Einerseits geht es also um den Austausch mit unterschiedlichen Meinungen und Lebensformen über die eigene Filterblase und politische Ausrichtung hinaus. Andererseits ermöglichen Bürgerräte ein „Erfahren“ politischer Entscheidungsfindung, das für Menschen, die zum Beispiel nicht ausreichend Zeit für regelmäßiges Engagement in Parteien oder Vereinen haben, oft als sehr eindrücklich beschrieben wird. Im Prozess entsteht so nicht nur Verständnis für Andere, sondern auch ein Gefühl der politischen Selbstwirksamkeit. Dies ist sicherlich ein Alleinstellungsmerkmal von Bürgerräten: In kurzer Zeit werden viele verschiedene Aspekte des politischen Alltagsgeschäfts erfahrbar. Zusätzlich ermöglicht die Ausarbeitung einer Handlungsempfehlung die tatsächliche Beteiligung an der Gestaltung von Politik. Politik ist mehr als alle vier Jahre ein Kreuzchen zu setzen, Politik ist mehr als wählen.

Auf Ihrer Internetseite rekurrieren Sie auf den „Schleier des Nichtwissens“ von John Rawls. Einfach gesagt, geht diese philosophische Idee davon aus, dass sich alle Akteure in einem fiktiven Raum auf eine zukünftige Gesellschaftsordnung verständigen. Da keine der Personen weiß, welche Position sie später inne hat, wird die Erzeugung eines gerechten Gesellschaftsvertrages möglich. In welcher Weise ist diese Überlegung für ihr Konzept von Bedeutung?

Rawls Konzept dient als eines von vielen zur Inspiration unserer Arbeit. Auch Ansätze von etwa Jürgen Habermas oder Chantal Mouffe, die einander in Teilen ja auch widersprechen, sind von Relevanz für die Auseinandersetzung um die beste Methode Politik zu machen. Hier ist es ganz wie in Bürgerräten selbst: Es gibt nicht die eine richtige Position, aber es gilt verschiedene Positionen zu kennen, sie auszuhalten und ihre Vor- und Nachteile reflektieren zu können. Inspirierend an Rawls Position ist sicherlich, dass das Zurücktreten hinter die eigenen Ansprüche zum Wohle der Allgemeinheit Grundlage politischer Entscheidungsfindung sein sollte. Das heißt dann nicht zwangsläufig, dass man ohne Position oder Meinung in einen Diskurs tritt – es kann auch sehr wichtig sein, die Lebensweise des Anderen kennenzulernen und so festzustellen, dass die eigene Sicht nicht die Norm ist und es verschiedene Blickwinkel und Bedürfnisse gibt. Am ehesten lässt sich das Ideal mit dem Begriff der „reflexiven Demokratie“ nach Robert Goodin beschreiben.

Rawls Ausführungen finden in einem theoretischen Setting statt. Haben Sie in Veranstaltungen den Eindruck, dass „realen“ Menschen dieser Abstraktionsschritt möglich ist?

Wir machen die Erfahrung, dass in unseren Formaten eine erstaunliche Bereitschaft dazu besteht, zunächst einfach den anderen Teilnehmenden zuzuhören und so unterschiedliche Positionen auszutauschen. Oft gibt es zu Beginn zunächst eine lebhafte Diskussion, die stark vom Austausch eigener Erfahrungen geprägt ist. Das Besondere danach ist dann aber, dass viele Teilnehmende gerne und bereitwillig ihre Meinungen ändern und anpassen, wenn die Erfahrung anderer sie beeindruckt oder überzeugt. Hinzu kommt, dass unsere Formate durch den Input von verschiedenen Expert*innen wissenschaftsbasiert sind. Wie oben angedeutet, geht es also weniger um eine völlig neutrale Haltung ohne Wissen um die eigene Position, sondern viel eher um die Fähigkeit die eigene Position zu verlassen, andere Lebensformen und Bedingungen zu reflektieren und gegebenenfalls die eigene zu hinterfragen.

ZUR PERSON

Katharina Liesenberg, 26, ist Mitgründerin der beiden Vereine mehr als wählen e. V. und Demokratie Innovation e. V., die sich für die Verstetigung geloster Bürgerräte einsetzen. Sie studiert im Master Politische Theorie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und schreibt ihre Masterarbeit zu politischer Repräsentation als wechselseitige Anerkennung.

Literaturhinweise

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Jürgen Habermas

Theorie des Kommunikativen Handelns Buch

Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1981.

BibTeX

Sherry Arnstein

A Ladder of Citizen Partizipation Artikel

In: Journal of the American Planning Association, Bd. 35, Nr. 4, S. 216-224, 1969.

Abstract | BibTeX

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Beim Deliberativen Mapping entwickeln Fachleute und Bürger gemeinsam in einem konsultativen Verfahren priorisierte Handlungsalternativen zur Bearbeitung eines Konfliktthemas.

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