Akzeptanz und Machbarkeit: Risikos einschätzen und Verantwortung übernehmen

Foto: Prof. Dr.-Ing. Johann-Dietrich Wörter (Eigenes Bild)

Der Autor Prof. Dr.-Ing. Johann-Dietrich Wörner  ist Generaldirektor der Europäischen Raumfahrtbehörde ESA. Dieser Beitrag war Teil eines Vortrags, den der Autor in der Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe in einer Anhörung zum Thema ,,Erfahrungen in Großprojekten“ am 14.09.2015 gehalten hat. Er ist angelehnt an einen Beitrag in Werkstoffe und Konstruktionen (Ernst&Sohn 2013).


 

1. Wechselwirkungen zwischen Technik und Gesellschaft

Als Ingenieure sind wir üblicherweise konzentriert auf die technische Umsetzung von Projekten und setzen unsere Kompetenz zum Realisieren der optimalen und vor allem sicheren Konstruktion ein. Bei der Entwicklung von Vorgaben für morgen ist es wichtig, auch die Geschichte anzusehen, auch wenn Albert Einstein formuliert hat: „Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben“. Ein Blick auf die Ereignisse seit dem Bau der Startbahn West am Frankfurter Flughafen zeigt, dass wir uns jetzt und in Zukunft auch um die gesellschaftliche Situation kümmern müssen, wollen wir nicht als reine Rechenknechte verstanden werden. Der Blick zurück in die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg offenbart einen gesellschaftlichen Wandel in Fragen der öffentlichen Beteiligung, der gerade auch bei der Schaffung von Infrastrukturen Bedeutung erlangt. Beispielhaft wird hier die Situation in Deutschland beschrieben:

  • Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war insbesondere in Deutschland von der Solidarität des Wiederaufbaus   geprägt.
  • Das folgende „Wirtschaftswunder“ Anfang der 60er Jahre brachte Wohlstand und Vollbeschäftigung.
  • Die „68er“-Bewegung war eine, insbesondere von der Jugend getragene Protestwelle, die dem gesättigten „Wohlstandsstaat“ insgesamt kritisch gegenüberstand und am Grundgerüst der bis dahin geltenden gesellschaftlichen Werte (erfolgreich) rüttelte. In zeitlicher Folge entwickelten sich teils radikale Bewegungen, wie die Rote Armee Fraktion, die durch gewalttätige Aktivitäten den Staat und die Gesellschaft zu ändern versuchten.
  • Nach dem Abebben der terroristischen Gewalt stabilisierte sich die Gesellschaft unter Berücksichtigung vieler Punkte, die durch die 68er Bewegung initiiert wurden, z.B. Enthierarchisierung des Hochschulsystems.
  • Eine besondere Rolle nahm dann die Solidarisierung in der DDR mit dem bekannten Ausgang der Wiedervereinigung Deutschlands ein. Eine Welle der gesamtdeutschen Begeisterung in der Hoffnung auf „blühende Landschaften“ durchzog Deutschland.
  • Es folgte Mitte bis Ende der 90er Jahre eine gewisse Ernüchterung, da einige der politisch geschürten Erwartungen nicht erfüllt werden konnten.
  • Zu dieser Zeit entwickelte sich eine Individualisierung, die ihren Höhepunkt in der bundesweiten „Geiz ist geil“ Schnäppchengesellschaft fand. Angeblich „kostenlose“ Angebote, „Verkauf zu Einkaufspreis“, „Angebote ohne Mehrwertsteuer“ und ähnliche, gesellschaftlich unvernünftige und volkswirtschaftlich unrealistische Sprüche fanden und finden ein großes Echo in der Bevölkerung. Wer hat welches Produkt zum niedrigsten Preis erworben ist seit dem zum Volkssport geworden.
  • Die zunehmende Individualisierung ist auch bei der Akzeptanz des Baus von Infrastrukturen zu beobachten. Während beim Bau der Startbahnwest in den 70er Jahren noch gesamtgesellschaftliche Werte und entsprechende Argumente im Zentrum standen, sind die heutigen Diskussionen sehr viel mehr auf einzelne, negative Wirkungen konzentriert, denen man durch Protest begegnet. Dieser Protest verschärft sich umso mehr, desto weniger sich der Einzelne informiert fühlt.

Die gesellschaftlichen Entwicklungen und die Wechselwirkungen mit den technischen Errungenschaften sind mannigfaltig. Eröffnete die Technik überhaupt erst die Möglichkeiten der industriellen Revolution, wurden aufgrund der gesellschaftlichen Randbedingungen neue Herausforderungen formuliert: Wirtschaftliche und ökologischen Aspekte wurden Teil der „Technik“. Relativ spät wurde dann erkannt und berücksichtigt, dass die allgemeine gesellschaftliche Positionierung einen entscheidenden Einfluss hat.

2. Modelle der Bürgerbeteiligung bei Infrastrukturprojekten

Die Auseinandersetzungen beim Bau der Startbahn West des Frankfurter Flughafens 1984 war ein erstes Beispiel, bei dem eine große Infrastrukturmaßnahme auf heftigen Widerstand traf. Aktuelle Beispiele sind Fehmarnbeltquerung, Ausbau des Berliner Flughafens Schönefeld und Stuttgart 21. Aber auch bei kleineren Projekten wie die Ostumgehung in Darmstadt ist zunehmend Widerstand zu erleben.

Eine besondere Rolle nimmt in diesem Zusammenhang der Bau der Landebahn Nordwest der Frankfurter Flughafens ein, bei dem erhebliche Anstrengungen unternommen wurden, durch umfangreiche Beteiligungsverfahren eine Wiederholung der Auseinandersetzungen Startbahn West zu verhindern.

Die Frage, die heute allenthalben gestellt wird lautet: Ist es in dieser Gesellschaft überhaupt noch möglich, große Infrastrukturprojekte zu realisieren? Wie stark sind das St. Florians Prinzip („Du heiliger St. Florian behüt mein Haus, zünd andre an“) oder die in USA mit Nimby („Not in my backyard“) ausgedrückte Auffassung der individualisierten  Interessenslagen von zentraler Bedeutung? In diesen Fragen gehen die Auffassungen weit auseinander:

Die einen fordern, dass formale Verfahren allein die Rechtssicherheit herstellen sollen und sind der Meinung, dass über die rechtlich vorgegebenen Verfahren genügend Beteiligung vorhanden ist und verweisen auf die Konstruktion der repräsentativen Demokratie. Die anderen fordern unter der Überschrift „direkte Demokratie“ die jeweils projektspezifische, unmittelbare Entscheidungsbeteiligung der Bevölkerung .

Eine Schwarz-Weiß-Entscheidung mag die „Lufthoheit“ an Stammtischen ermöglichen, ist der Komplexität der Frage aber nicht angemessen:

Die Veränderung der Gesellschaft ist eine Tatsache, die bei der Planung und dem Bau von Infrastrukturen in zunehmendem Maße berücksichtigt werden muss. Auf der anderen Seite ist Rechtssicherheit in einem Rechtsstaat ein hohes Gut, dessen Bewahrung auch ein grundgesetzlicher Auftrag ist. Die Veränderung der Gesellschaft umfasst sowohl die Frage relevanter Risiken [1] als auch die prinzipielle Akzeptanz von Infrastrukturen [2]. Hoffnungen [3] und Sorgen [4] werden in der Öffentlichkeit je nach Thema entsprechend positioniert.

Die Frage der Bürgerbeteiligung ist heute nicht mehr „ob“ sondern „wie“. Dabei werden ganz unterschiedliche Ansätze verfolgt und als beispielgebend angesehen. Viele Verantwortliche glauben immer noch, dass Bürgerbeteiligung einfach eine Frage der Kommunikation und Information sei. Dahinter steht die Überzeugung, dass man weiß, was die beste Lösung ist, nur die Öffentlichkeit muss noch „überzeugt“ werden. Es geht in diesem Fall also nicht um Beteiligung, sondern um Überzeugung. Andere wiederum sind der Auffassung, die beste Bürgerbeteiligung sei die Nutzung des wesentlichsten Instruments der Demokratie, der Abstimmung. Mit Mindestquoren und Vorgaben über die rechtsstaatliche Fragestellung wird die Bevölkerung zur Abgabe ihrer Stimme gebeten. Bei dem konkreten Fall über Entscheidung über eine Umgehungsstraße musste man mit „ja“ stimmen, um gegen die Umgehungsstraße zu sein. Die Begründung für diesen Umstand war der Tatsache geschuldet, dass die Stadtregierung den Bau der Umgehungsstraße beschlossen hatte. Aus formalen Gründen ist das Volksbegehren dann gegen den Bau auszurichten, so dass die Frage sinngemäß lautet: „Sind Sie dafür, dass die Umgehungsstraße nicht gebaut wird“. Neben dieser „anspruchsvollen“ Formulierung, die an sich schon eine niedrige Abstimmungsbeteiligung erzeugt, ist es aber auch die Reduzierung auf „ja“ oder „nein“, die einer verantwortungsvollen Gesellschaft widerspricht.

In diesem Zusammenhang werden zunehmend Mediationsprozesse implementiert, die die Beteiligung unterschiedlichster Interessen aufnehmen und im besten Fall nicht zu einer Kompromisslösung, sondern zu einem Konsens unter Berücksichtigung der verschiedenen Vorstellungen führen.

Das typischste Beispiel für einen erfolgreichen Mediationsprozess ist das fiktive „Orangen“-Beispiel: Zwei Menschen streiten sich um eine Orange. Die triviale, konservative Lösung liegt in der Halbierung der Orange, so dass jeder 50% seines Wunsches erfüllt bekommt. Es wird also ein klassischer Kompromiss erreicht. Bei der Mediation geht nun dem eigentlichen Lösungsvorschlag eine differenzierte Analyse der Interessen und Wünsche voraus. Wenn sich herausstellt, dass sich die Wünsche tatsächlich nicht widersprechen, kann die Suche nach einer Lösung beginnen. Im besten Fall möchte der eine das Fruchtfleisch essen und der andere die Orangenschale wegen der enthaltenen Öle nutzen. Jetzt ist der Weg zur Lösung offensichtlich, beide erhalten 100% ihrer Wünsche erfüllt.

Richtig etabliert werden Auseinandersetzung und die offene Kommunikation über Projekte nicht als „Risiko“ sondern als Chance verstanden, insbesondere wenn der Zeitpunkt dafür richtig gewählt wird. Die breite bürgerschaftliche Beteiligung, insbesondere auch durch Fachleute verschiedenster Fachrichtungen, hat mittlerweile eine Qualität erreicht, die bei richtiger Berücksichtigung eine Hilfe für die Planer, die Genehmigungsinstanzen und die Ausführenden sein kann.

In der Konsequenz dieser Überlegungen gehen moderne Bürgerbeteiligungsverfahren über die Erreichung von Akzeptanz hinaus und generieren einen Mehrwert für das Projekt, der über die Machbarkeit und technischer und gesellschaftlicher Hinsicht weit hinausgeht.

3. Divergenz von technischer und psychologischer Risikobewertung

Die Bandbreite der von der Gesellschaft „geforderten“ Infrastrukturen ist groß. Im Bereich der baulichen Konstruktionen sind insbesondere zu nennen:

  • Straßen, Tunnel, Brücken
  • Eisenbahn-, U-Bahn-, S-Bahn-Bauwerke
  • Flughäfen
  • Wasserversorgung und Abwasserbehandlungsanlagen
  • Energiebauwerke (Kraftwerke, Lager, Netze)

Unsere hochindustrialisierte, wohlhabende Gesellschaft ist in großem Maße von Infrastrukturen abhängig. Die Anforderungen des Einzelnen hinsichtlich Mobilität, Kommunikation, Energie, Komfort etc. sind in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gewachsen und haben aus Wünschen Ansprüche aber auch Abhängigkeiten generiert. In der Folge haben sich auch das tägliche Leben und die zugehörigen Erwartungen und Gewohnheiten verändert: Ununterbrochene Versorgung mit elektrischer Energie, rasche Verkehrsmöglichkeiten, umfassende Kommunikation mit unbegrenzten, zeit- und ortsunabhängigen Zugriff auf Daten sind nur einige der individuellen Aspekte; wirtschaftliche Interessen und gesellschaftliche Punkte ergänzen den Anforderungskatalog.

Neben der allgemeinen gesellschaftlichen Akzeptanz von Infrastrukturen haben die verschiedenen Katastrophen der letzten Jahrzehnte, allen voran die Tsunami und ihre Folgen bei Fukushima, einen weiteren Punkt offenbart, der in der bisherigen Ingenieurpraxis nicht ausreichend berücksichtigt wurde. Zentraler Aspekt der Frage der Akzeptanz ist das Risiko, dessen Bedeutung mittlerweile viele Bereiche des täglichen Lebens betrifft, dessen jeweilige fachspezifische Definition sehr unterschiedlich festgelegt ist.

Alle bisherigen sicherheitstheoretischen Überlegungen im Bauwesen und anderen technischen Bereichen basierten indirekt auf der Annahme, dass man durch entsprechende Begrenzung des Risikos auf ein „akzeptables“ Maß den gesellschaftlichen Anforderungen genügen könne. Mathematisch wird Risiko als multiplikative Verknüpfung von der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts und dem Schadensumfang beschrieben. Das so errechnete vorhandene Risiko kann dann mit dem akzeptablen, zulässigen Risiko verglichen werden.

Im Bauwesen wurde üblicherweise eine Trennung durchgeführt, in dem man die maximale Versagenswahrscheinlichkeit in Abhängigkeit des Schadensbedeutung (keine Gefahr für Menschenleben – Gefahr für Menschenleben und wirtschaftliche Folgen – große Gefahr für Öffentlichkeit) um jeweils eine Zehnerpotenz unterschiedlich ansetzte und den Schadensumfang ansonsten allenfalls durch Konstruktionshinweise beschränkte.

Als Konsequenz dieser Vorgaben wird bei schadensumfangsunabhängiger Versagenswahrscheinlichkeit mit zunehmendem Schadensumfang eine Zunahme des Risikos „akzeptiert“.
Die Erfahrung und Beobachtung der gesellschaftlichen Reaktionen nach verschiedenen Katastrophen zeigt, dass der Mensch die Höhe des akzeptablen Risikos von subjektiven Überlegungen abhängig macht.

Situationen, in denen der Einzelne glaubt, selbst Einfluss auf das Ereignis nehmen zu können, werden weit unkritischer betrachtet als Situationen, in denen man sich ausgeliefert fühlt. Beispiele sind das Autofahren oder Risikosportarten auf der einen und Flugzeugfliegen oder Vogelgrippe auf der anderen Seite. Auch die Frage des persönlich erwarteten Vorteils durch den jeweiligen Vorgang spielt eine Rolle, wie das Beispiel „an der Tankstelle selber tanken“ gut dokumentiert: Obwohl die Gefahren beim selber tanken, Krebs durch Einatmen der Dämpfe und Explosionsgefahr, hinlänglich bekannt sind, hat es sich durchgesetzt, da der Einzelne den Preisvorteil über die Gefährdung positioniert.
Die Nichtlinearität der Abhängigkeit des „gefühlten“ Risikos vom Schadensumfang lässt sich ebenfalls leicht an ausgewählten Beispielen nachvollziehen: Die gesellschaftliche Betroffenheit nach Unfällen wie dem ICE-Unglück in Eschede mit 101 Toten im Vergleich zu einzelnen Todesfällen im Straßenverkehr (derzeit alle zwei Stunden ein Toter auf Deutschlands Straßen) lässt erkennen, dass die obige Gleichung modifiziert werden muss.

Dieser gesellschaftlichen Realität kann durch die Berücksichtigung von speziellen Parametern Rechnung getragen werden, die die individuelle Vorteilserwartung („Autofahren bringt mich schnell an mein Ziel“), die Einschätzung des persönlichen Einflusses auf das Schadensereignis („Ich passe im Straßenverkehr auf“) und die Bedeutung des Schadens (von Sachschaden bis große Bedeutung für die Gesellschaft) umfassen. Schließlich ist noch ein Korrekturfaktor zur Erfassung der psychologischen Wirkung unterschiedlich großer Schäden einzuführen.

Wie die Beispiele der Kernkraftwerksunfälle Tschernobyl und Fukushima gezeigt haben, gibt es Szenarien, die von der Gesellschaft, oder zumindest großen Teilen der Gesellschaft nicht mehr akzeptiert werden. Ein Teil der Begründung für dieses, aus rechnerischer Sicht „unlogische“ Verhalten, liegt in der Tatsache, dass in der Öffentlichkeit der Begriff Restrisiko mit „unmöglich“ gleichgesetzt wurde. Die Argumentation, dass Situationen eintraten, die nicht Teil der Auslegung waren, ändert die gesellschaftliche Beurteilung nur marginal. Eine Betrachtung mit der o.g. Systematik würde zwar einen ersten Schritt in Richtung der psychologischen Beurteilung machen, das Problem der Nichtakzeptanz ist damit jedoch noch nicht gelöst. Der ingenieurtechnische Weg in diese Richtung ist die ausführliche Betrachtung möglicher Szenarien, sowohl auf der Einwirkungs- wie Widerstandsseite. Wer aber hätte vor dem terroristischen Angriff auf die Zwillingstürme des World Trade Centers ein entsprechendes Szenario als Grundlage der Bemessung angesetzt und wäre der Bauherr bereit gewesen, die dann zwangsläufig höheren Kosten zu tragen? Ist es überhaupt möglich, die Szenarien mit ausreichender Wahrscheinlichkeit vollumfänglich zu erfassen? Die Natur ist da noch der einfachste Einfluss, da die verschiedenen Naturereignisse wie Stürme, Erdbeben, Vulkanausbrüche und Tsunamis in Abhängigkeit des jeweiligen Ortes und unter Berücksichtigung langer Zeitreihen einigermaßen erfasst werden können. Schon der Lastfall „Terrorismus“ ist nicht quantifizierbar, zu kriminell, skrupellos und unberechenbar sind die Aktivitäten.

Die beste Kompatibilität zwischen rechnerischer Situation und gesellschaftlicher Beurteilung wäre sicherlich zu erreichen, wenn die Größe des möglicherweise eintretenden Schadens auf ein Maß begrenzt wird, dass die Gesellschaft offensichtlich akzeptiert. Dies ist in vielen Bauwerken mit begrenzten Maßnahmen erreichbar, hat aber auch Einfluss auf die maximale Größe.

Hier gilt es einen gesellschaftlichen Konsens zu etablieren, um den Bedarf und die jeweilige Infrastruktur aufeinander, unter Berücksichtigung der regionalen Bedingungen abzustimmen.

4. Erfolge und Misserfolge bisheriger Bürgerbeteiligung

Neben den rein technischen Fragestellungen, verbunden mit gesellschaftlichen Bewertungen des Risikos ist die Etablierung von großen Infrastrukturmaßnahmen auch ohne besonderes Risikopotenzial immer häufiger mit Protesten verbunden. Der Bau von Umgehungsstraßen, Flughäfen, Windenergieanlagen, Brücken und Bahnhöfe regt den Widerstand aus ganz unterschiedlichen Interessenslagen. Während in der Vergangenheit die Bürgerinteressen allenfalls in entsprechenden Anhörungen gehört und im Rahmen des Genehmigungsverfahrens berücksichtigt wurden, wird zunehmend eine Beteiligung gefordert, die unmittelbar auf das Projekt Einfluss nimmt.

Am Beispiel des Baus der neuen Landebahn des Frankfurter Flughafens wurde ein Weg beschritten, der bis heute beispielgebend ist, auch wenn nicht alle Erwartungen erfüllt wurden: Kurz nach der öffentlich formulierten Forderung nach Erweiterung des Flughafens wurde von der hessischen Landesregierung ein Mediationsverfahren eingeleitet, um die Beteiligung der Region und der Betroffenen sicherzustellen. Entgegen einiger Erwartungen stand am Ende des fast zweijährigen Prozesses ein Mediationspaket fest, das den Ausbau mit Maßnahmen des Schutzes (Anti-Lärm-Pakt und Nachtflugverbot) untrennbar verband.

Damit waren wesentliche Vorgaben für den Antrag auf Planfeststellung formuliert. Die Etablierung eines regionalen Dialogforums diente der Sicherstellung des Mediationsergebnisses während der Phase der formalen Verfahren. In umfangreichen Gutachten wurden verschiedene Aspekte untersucht und eingebracht. Nach der Planfeststellung wurde der Dialog erneut reformiert, um begleitend in großer Runde verschiedene Aspekte wie aktiver und passiver Lärmschutz zu entwickeln und offene Fragen, wie den Zusammenhang zwischen Lärm und Lärmwirkung zu klären. Das gesamte Bild der Beteiligung und der formalen Verfahren entsprechend den Frankfurter Erfahrungen ist in Bild 1 dargestellt.

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Bild 1: Formale Verfahren und Beteiligung, Flughafen Frankfurt

Das Gegenbeispiel ist Stuttgart 21. Nach einer langen Vorlaufplanung, die allein durch politische und formale Aspekte gekennzeichnet war, wurde, nachdem die öffentlichen Proteste zunahmen, eine „Schlichtung“ etabliert (Bild 2).

Bildschirmfoto 2015-11-17 um 15.51.29

Bild 2: Formale Verfahren und Beteiligung, Stuttgart 21

Eine Schlichtung, als Versuch der Findung eines Kompromisses, mag in Tarifauseinandersetzungen ein geeignetes Instrument sein, im Zusammenhang mit der Realisierung von Infrastrukturmaßnahmen ist es ungeeignet, insbesondere, wenn bereits durch formale Verfahren Entscheidungen gefällt wurden. Zudem wurden in Stuttgart selbst triviale Empfehlungen der Schlichtung, wie die Einrichtung eines begleitenden Forums, selbst Monate danach nicht umgesetzt. Die begrenzt positive Wirkung der Schlichtung wurde so ohne Not in Frage gestellt.

Während beim Frankfurter Verfahren durch die Vorschaltung einer Mediation ein ergebnisoffener Dialog mit breiter Beteiligung geführt und zu einem klaren Ergebnis, dem Mediationspaket, gebracht wurde, das in der Folgezeit die stabile Grundlage für die weiteren Diskussionen aber auch die formalen Verfahren darstellte, hat man in Stuttgart viel zu spät, nämlich erst nach der zentralen Planfeststellung die Proteste zum Anlass genommen, Bürgerbeteiligung zu realisieren. Die durchlaufende, öffentliche Bearbeitung führte zudem in Stuttgart häufig zu entsprechenden öffentlichkeitswirksamen Redebeiträgen, während in der Frankfurter Situation die Balance von öffentlichen Veranstaltungen und Diskussionen in kleinerem Rahmen Information und Vertrauensaufbau bei den Beteiligten gleichermaßen absicherte.

Beteiligung ersetzt nicht die formalen Verfahren oder korrigiert sie nachträglich, sondern begleitet und beeinflusst sie. Die frühzeitige Realisierung von Beteiligung kann zu einer Projektveränderung führen, die gegebenenfalls zu einer Projektmodifikation auf jeden Fall aber zu einer größeren Akzeptanz führt.

Beteiligung darf nicht die Rechtsicherheit von Genehmigungsentscheidungen in Frage stellen, da der Antragsteller, gleichgültig ob privat oder öffentlich, ein Anspruch auf eine verlässliche Entscheidung haben muss.

Um in Zukunft gesellschaftlich tragfähige Lösungen zu entwickeln, sind die geeigneten Verfahren und Prozesse in jedem Einzelfall festzulegen, um die formalen Verfahren und die Bürgerbeteiligung nicht als Gegenpole sondern wichtige Funktionen einer modernen Gesellschaft und Projektentwicklung zu verstehen. Dazu sind vorab Überlegungen zu Zeitpunkt, Randbedingungen, Koordination und Organisation der Bürgerbeteiligung festzulegen. Zentraler Punkt jeder Bürgerbeteiligung ist die Verlässlichkeit der Projektverantwortlichen hinsichtlich der Berücksichtigung der Ergebnisse der Beteiligung: Wenn die Randbedingungen und Freiräume der Beteiligung vorab klar definiert sind, müssen die Ergebnisse, sofern sie diesen Bedingungen genügen, auch eingehalten werden.

Um die Zukunft zu sichern, müssen die Ingenieure ihr Selbstverständnis als reine Techniker modifizieren und sich als Akteure verstehen, die die gesellschaftlichen Veränderungen antizipieren und mitgestalten. Ein derartig modifiziertes neues Selbstverständnis führt dann in Konsequenz mehr oder weder zwangsläufig auch zu veränderten Verfahren unter breiter Beteiligung aller Betroffenen und aktiver Information und Kommunikation durch die Fachleute, namentlich die Ingenieure.

Referenzen

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Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (acatech), Akzeptanz von Technik und Infrastrukturen, Anmerkungen zu einem aktuellen gesellschaftlichen Problem, acatech Bezieht Position – Nr. 9, Springer Verlag, Berlin 2011.
Fischermann, Thomas und Gero von Randow, Rettet uns die Technik?, in: Die Zeit, 16. Juni 2011.
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