Unregierbar: Die Universität?

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Worum es geht

Aufhänger für die Frage, ob deutsche Hochschulen unregierbar sind, ist die jüngste Entwicklung an der Berliner Humboldt-Universität. An dieser Exzellenzuniversität wurde der bisherige Präsident Jan-Hendrik Olbertz am 20. April 2010 ohne einen Gegenkandidaten ins Amt gewählt. Nachdem er mit seinem Vorstoß erneut einen Kanzler als starken, zentralen Verwaltungsleiter einzusetzen vor den zuständigen Gremien scheiterte, gab er im Oktober 2015 bekannt, nicht zur Wiederwahl zur Verfügung zu stehen.

Wunschkandidat der achtköpfigen Findungskommission und des Kuratoriums der Universität war daraufhin Martin Lohse. Der 1956 in Mainz geborene Mediziner wurde denn auch einstimmig durch das Universitätskuratorium als Nachfolger vorgeschlagen. Er ist ein renommierter Forscher in den Bereichen Pharmakologie/Toxikologie sowie der Herz-Kreislauf-Forschung und erhielt diverse Auszeichnungen sowie Ehrungen. Zudem ist er Mitglied in mehreren Gremien u. a. der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und war von 2009 – 2015 Vizepräsident für Forschung an der Universität Würzburg.

Nach Bericht des Tagesspiegels hatte Martin Lohse seine Kandidatur für den ihm angetragenen Posten bereits schriftlich zugesagt. Umso überraschender kam daher für die Gremienmitglieder der Humboldt-Universität auch die unlängst mitgeteilte Absage Lohses. Im besagten Artikel führt er sie auf eine Fehleinschätzung des zukünftigen Tätigkeitsspektrums zurück. Insbesondere für die schwerpunktmäßige Ausrichtung der Arbeit auf eine Verwaltungsreform und die Sicherstellung der Finanzierung der Universität sei er demzufolge keine adäquate Besetzung als Präsident. Beobachter vermuten, dass der anerkannte Mediziner die Kandidatur zu Gunsten einer aussichtsreicheren Stelle zurückgezogen hat oder gar die ganze Zeit zweigleisig gefahren ist. Immerhin kursieren Gerüchte, dass er zukünftig den Vorstandsvorsitz des Max-Delbrück-Centrums – einer molekularmedizinischen Forschungseinrichtung – in Berlin übernehmen soll.

Die Debatte: Besteht eine Unregierbarkeit deutscher Universitäten?

Vor diesem Hintergrund findet derzeit auf Betreiben der Zeitung ,,Tagesspiegel“ eine literarische Debatte um die Anforderungen, Herausforderungen, Aufgaben und Schwierigkeiten statt, denen sich heutige Rektorinnen oder Rektoren bzw. Präsidentinnen und Präsidenten deutscher Hochschulen stellen müssen. Sie wird nachfolgend in Auszügen skizziert.

Klassisches Regieren und Governance

Mit Hilfe des Begriffs ,,Governance“ werden  in der Politikwissenschaft allgemein Steuerungs- und Leitungsmuster jenseits des klassischen Regierens, im Sinne eines ,,top-down-Verständnisses“ umschrieben, wobei als Analysenmerkmale bspw. die spezifische Aufbau- und Ablauforganisation, Weisungskompetenzen und -Befugnisse, Hierarchisierungsgrad oder Kontrollfunktionen Anwendung finden können. Governance-Analysen beschränken sich nicht mehr zwangsläufig auf staatliche Akteure, sondern schließen bspw. als Corporate Governance die Betrachtung von Unternehmen mit ein, worin ein breiter gefasstes Begriffsverständnis Ausdruck findet.

Durchregieren? Keine Chance!

Die Debattenteilnehmer betonen, dass das Regieren einer Universität nur gelingen kann, wenn ein modernes Führungsverständnis besteht und die besondere Struktur und Zusammensetzung von Hochschulen beachtet wird. Während früher eine kleine Gruppe von Ordinarien mit wenigen Verwaltungsbeamten in einem hierarchisch strukturierten Gebilde ,,durchregieren“ konnte, sind heute viele Gremien gewählt und Arbeitsteilung ist etabliert, was mehr denn je neue Anforderungen an alle Beteiligten stellt, die nun Kompromisse erzeugen, Mehrheiten beschaffen und Interessen ausgleichen müssen (Professor Markschies) – so lautet denn auch bereits der Titel des Beitrags von Bildungsexpertin Gaehtgens ,,Durchregieren? Keine Chance!“. Außerdem erschwert bzw. verhindert der Umstand, dass Universitäten einen Hort kluger Köpfe bilden, die sich als freidenkende Wissenschaftler begreifen, einen schablonenhaften Transfer von Leitungsmustern, die sich im privatwirtschaftlichen Bereich bewährt haben. Mithin ist der CEO eines Unternehmens keine passende Blaupause für die richtige Gestalt einer Hochschulleitung, wie Professor Kempen darlegt. So werden sich Wissenschaftler mit einer stark weisungsgebunden Agentenrolle in einem eng gestrickten Kennzahlensystem nicht abfinden. Des Weiteren, so Professor Turner, liegt Professoren eine der Unternehmensidentifikation gleichkommende Bindung zu ihrer Universität in der Regel eher fern und ihnen ist primär an eigenem Ansehen und eigener Reputation gelegen. Offensichtlich schafft das Herausforderungen für die Hochschulleitung. Es obliegt ihr nicht nur, oft widerstreitende Einzelinteressen einer Vielzahl an Professoren/Fakultäten/Fachbereichen bei Fragen der Hochschulpolitik auszutarieren. Sie muss sich im Spannungsfeld von Gremien, die extern besetzt sind,  und inneruniversitären Kräften bewähren, sodass sie die Erfüllung der Aufgaben und Ziele der Universität sicherstellt und mithin das universitäre Gesamtinteresse erreicht. Stark hierarchisches Vorgehen wird dabei alleine schon deswegen nicht von Erfolg gekrönt sein, da sich wissenschaftliche Fachkräfte aufgrund ihres Werdegangs in Konfliktsituationen mit dem Mittel der Obstruktion zu helfen wissen. Darunter versteht Professor Pasternack folgendes Verhaltensmuster: Wissenschaftlicher sind darin geschult, Prozesse einer kritischen Analyse zu unterwerfen. Die Befähigung kann auch dazu verwendet werden, Prozesse durch ,,gute Kritik“ zu verlangsamen oder zu blockieren. Diese Strategie der Daueranfechtung kann entweder zur Ermüdung des Kontrahenten führen, infolgedessen schlussendlich die Verfolgung des Projekts aufgegeben wird. Oder sie wird in Verbindung mit der Kenntnis um Legislaturperioden dazu verwendet, die unerwünschte ,,Sache auszusitzen“.

Außendimension

Außen- und Binnendimension dürfen nicht als voneinander losgelöste Betätigungsfelder begriffen werden. Stattdessen schafft eine erfolgreiche Binnenorganisation die Voraussetzung dafür, dass die Universität nach außen einen handlungsfähigen Akteur darstellt.  Stärker als jemals zuvor ist die Hochschulleitung als Vermittler zwischen selbstbewussten externen und internen Akteuren gefordert (Professorin Wintermantel), wobei Konsens zwischen den Autorinnen und Autoren besteht, dass bereits die Außenvertretung einer Bildungseinrichtung für sich genommen zu keiner Zeit leicht gewesen ist. Vielmehr sehen sich Universitäten mit anhaltenden Finanzierungsfragen und Autonomieproblemen konfrontiert, wobei sich letztere in einem anhaltenden Diskurs manifestieren, in welchen Bereichen der Staat universitäre Mitbestimmungsrechte haben soll und wie viel staatliche Nähe Hochschulen gut tut. In diesen Fragen von Autonomie und staatlicher Reglementierung sieht Professorin Ischinger für heutige Universitäten eine Zerreißprobe. Darüber hinaus wird zunehmend von Universitäten verlangt, sich nicht nur auf die fachbezogene akademische Ausbildung zu beschränken, sondern sie sehen sich gesellschaftlichem Druck ausgesetzt, sich ethisch/moralisch in zentralen gesellschaftlichen Themen zu positionieren.

Die richtige Leitungsstruktur

Vor dieser groben Darstellung der Schwierigkeiten und Herausforderungen, der sich Leitende einer Hochschule gegenwärtig gegenübersehen, diskutieren die Autoren unterschiedliche Governance-Strukturen. Für das in Deutschland verankerte System der universitären Selbstverwaltung spricht sich Professorin Metzler aus. Sie betont dabei, dass Selbstverwaltung nicht missverstanden werden darf, als das Recht auf Blockadepolitik zur Verfolgung partikularer Interessen. Stattdessen erinnert sie daran, dass, bei aller Akzeptanz von persönlichen Interessen, verantwortwortungsbewusste Beteiligung im Rahmen der Selbstverwaltung vernunftbezogen mit Blick auf das Ganze erfolgen muss. Demgegenüber betont Professor Markschies, dass in Folge der gestiegenen Komplexität, der sich heutige Hochschulleitende gegenübersehen, eine Arbeitsteilung diesen Veränderungen am ehesten Rechnung tragen kann. Denkbar wäre, dass eine wissenschaftlich renommierte Hochschulleitung für die Außendarstellung und strategische Ausrichtung der Universität verantwortlich sein könnte, die von einer starken und professionellen Verwaltungspersönlichkeit begleitet wird. Deutlicher formuliert es der ehemalige Kanzler der Universität Düsseldorf. Er sieht einen starken Kanzler als Bedingung für erfolgreiches Wirken der wissenschaftlichen Mitarbeiter, denn so werden letztere nicht mit administrativen Belangen überlastet. Dennoch dominiert mehrheitlich die Grundhaltung, dass es kein Patentrezept einer richtigen Governance-Struktur gibt. Ob eher eine unternehmensähnliche Struktur im Rahmen des New Public Management, ein(e) Rektor(in) begleitet durch einen starken Kanzler als Verwaltungsführer oder universitäre Selbstverwaltung passend ist, wird letztlich immer eine Einzelfallentscheidung sein und ist abhängig von der Genese der Hochschule. Professor Hippler verweist darauf, dass es jenseits der Frage nach der richtigen Leitungsstruktur, auch um den passenden Leitungsstil der Hochschulleitung geht. Erfolgreiche Führung hängt demnach immer auch davon ab, ob der/die Leitende ,,den richtigen Ton“ trifft. Während nach außen ein geschlossenes, starkes Auftreten wichtig ist, um Einigkeit und Handlungsstärke zu symbolisieren, wird nach innen ein erfolgreicher Führungsstil vielleicht eher kommunikativ/partizipativ sein, wohingegen in finanziellen Belangen partiell hierarchische Führung notwendig sein mag.

Fazit

Die schlaglichtartige Darstellung der literarischen Debatte des Tagesspiegels verdeutlicht, dass eine generelle Unregierbarkeit von deutschen Universitäten zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht besteht. Vice versa gibt es auch kein Patentrezept für eine erfolgreiche Hochschulleitung. Schwierigkeiten bei der Besetzung von Hochschulleitungen reflektieren, dass es sich um ein Amt handelt, das komplex und anspruchsvoll ist und große Herausforderungen an die Kommunikations-, Konsensbildungs- und Führungsfähigkeiten der Beteiligten stellt.

Die Debatte ist über folgenden Link erreichbar: Tagesspiegeldebatte zur Unregierbarkeit deutscher Universitäten

Literaturhinweise

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Stefanie Lütters

Soziale Netzwerke und politische Partizipation. Eine empirische Untersuchung mit sozialräumlicher Perspektive Buch

2022, ISBN: 978-3-658-36753-4.

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Christopher M. Brinkmann

Crossmediales Wissensmanagement auf kommunaler Ebene: Bürgerbeteiligung, Netzwerke, Kommunikation Buch

2021, ISBN: 978-3-658-35879-2.

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Arne Spieker

Chance statt Show – Bürgerbeteiligung mit Virtual Reality & Co. Akzeptanz und Wirkung der Visualisierung von Bauvorhaben Buch

2021, ISBN: 978-3-658-33081-1.

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Impacts of Participatory Budgeting on Governance and Well-Being (2021). Webinar and research brief. Forschungsbericht

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Impacts of Participatory Budgeting on Civil Society & Political Participation Forschungsbericht

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Nicole Najemnik

Frauen im Feld kommunaler Politik. Eine qualitative Studie zu Beteiligungsbarrieren bei Online-Bürgerbeteiligung Buch

2021, ISBN: 978-3-658-34040-7.

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Jan Kaßner, Norbert Kersting

Neue Beteiligung und alte Ungleichheit? Politische Partizipation marginalisierter Menschen Forschungsbericht

vhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e. V. Berlin, 2021, ISBN: 978-3-87941-811-4.

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Jan Abt, Bianka Filehr, Ingrid Hermannsdörfer, Cathleen Kappes, Marie von Seeler, Franziska Seyboth-Teßmer

Kinder und Jugendliche im Quartier - Handbuch und Beteiligungsmethoden zu Aspekten der urbanen Sicherheit Forschungsbericht

2021, ISBN: 978-3-88118-679-7.

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Irmhild Rogalla, Tilla Reichert, Detlef Witt

Partii - Partizipation inklusiv Forschungsbericht

2021, ISBN: 978-3-942108-20-1.

Abstract | BibTeX

Peter Patze-Diordiychuk; Paul Renner (Hrsg.)

Methodenhandbuch Bürgerbeteiligung - Moderationsphasen produktiv gestalten Buch

oekom verlag, München, 2019, ISBN: 978-3960061724.

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