Saillans: Experiment partizipativer Demokratie in Frankreich

Foto: Miss Shari via flickr.com , Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0

Autor: Cécile Marchand

Im März 2014 haben Kommunalwahlen in Frankreich stattgefunden. In einer kleinen Gemeinde Frankreichs im Departement Drôme (Saillans, 1199 Einwohner) tauchte eine ungewöhnliche Liste auf: eine Bürgerliste. Merkwürdig ist ihr Programm: die Liste hat kein vorgelegtes Programm sondern eine Methode. Sie möchte eine kollegiale und partizipative Methode der Lokalpolitik umsetzen. Die Wahlergebnisse zeigen, dass dieses neue experimentelle politische Projekt der lokalen Bevölkerung gefallen hat. Nach dem ersten Wahlgang mit einer Wahlbeteiligung von 78,97 % (von 1 070 Wahlberechtigter) wurde die Liste sofort mit 56,77 % der Stimmen gewählt. Entsprechend der kollegialen Methode stellte sich anschließend die Frage des Spitzenkandidaten, der Bürgermeister wird. Die innovative Lösung der Mitglieder der Liste: einfach derjenige, der am meisten Freizeit hat. Die Wahl fiel daher auf Vincent Beillard, Wächter in einem spezialisierten Aufnahmezentrum. Er wurde Bürgermeister.

Der Ursprung dieses politischen Projekts liegt in einer öffentlichen Veranstaltung, die 2013 vom Verein Pays de Saillans mit der Methode der volkstümlichen Erziehung organisiert wurde. Der Verein wurde 2011 gegründet, um gegen die vom damaligen  Bürgermeister unilateral getroffenen politischen Entscheidung vorzugehen, ein Einkaufszentrum am Ortsrand zu bauen. Während der Veranstaltung wurde die Teilnahme der 120 Bürgerinnen und Bürger in Arbeitsgruppen (Zusammenleben, Parken, Umwelt, usw …)  organisiert. Innerhalb dieser Arbeitsgruppen wurden die Teilnehmer gebeten, eine Art Analyse der Situation in der Gemeinde zu erstellen und anhand dieser Analyse Ideen zu entwickeln. Die zweite Veranstaltung hat 250 Einwohnern dazu gebracht, kollektiv über die Zukunft der Gemeinde nachzudenken. Daraus ist die Idee entstanden, eine Bürgerliste für die nächsten Kommunalwahlen aufzustellen. „Auf der Straße, in den Kaffees, auf dem Markt, die ganze Stadt unterhielt sich über Politik. Die Eifer war großartig“, erinnert sich Sabine Girard in einem Interview mit der französischen Zeitschrift Kaizen.

„Auf der Straße, in den Kaffees, auf dem Markt, die ganze Stadt unterhielt sich über Politik. Die Eifer war großartig“

Heute ist Saillans ein Versuchslabor für die Wiedererfindung der Governance. Die erste Stellvertreterin des Bürgermeisters, Annie Morin, erklärt in Kaizen: „Anders regieren bedeutet, sich auf die Eigenschaften jeder Einwohners zu stützen. Die Bürgerinnen und Bürger haben Ideen und sind mit der Wirklichkeit des Lebens konfrontiert. Man muss sich nur trauen. Dann wird einem klar, dass jede und jeder von uns ein bestimmtes Wissen beizutragen hat.“ Konkret teilt sich die lokale Politik in sieben thematische Kommissionen. Aus den Diskussionen innerhalb der Kommissionen entstehen „groupes de projets“ (Projektgruppen), die sich auf ein bestimmtes Projekt beispielweise „Schulrythmen“ oder „Gestaltung der Hauptstraße“ fokussieren.

Nach mehr als einem Jahr werden allerdings nun alle Beteiligten mit den Herausforderungen der partizipativen Demokratie  konfrontiert.  Das Hauptrisiko besteht darin, Entscheidungen innerhalb einer eingeschränkten Gruppe zu treffen. Die Gemeinde zählt etwa hundert politisch aktive Einwohner. Eine breitere Partizipation ist nötig, um die Vorgaben der Liste zu erfüllen. Laut Fernand Karagiannis, Stellvertreter der Gemeinde, werde der Bürgerrat versuchen, durch langfristige Handlungen zu zeigen, dass sie keine unterdrückenden politischen Kräfte sind. Die Mandatsträgern haben vor, innovative Methoden der Bürgerbeteiligung zu benutzen, um eine möglichst breite Partizipation zu erreichen.

Immerhin ruft das Experiment in Zeiten einer tiefen demokratischen Krise eine gewisse Hoffnung für die Entstehung neuer Arten des Regierens hervor.

Literaturhinweise

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Abstract | Links | BibTeX

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