Inklusive Beteiligung

Ein Interview mit dem Leiter der Bundesfachstelle Barrierefreiheit Volker Sieger

Eine vitale Demokratie lebt von breiter Beteiligung. Für Menschen mit Behinderungen bestehen jedoch nach wie vor häufig Barrieren bei der politischen Teilhabe. Im Interview spricht der Leiter der Bundesfachstelle Barrierefreiheit Dr. Volker Sieger darüber, was es braucht, damit allen Menschen der Gesellschaft online und offline gleichermaßen Partizpation möglich wird.

Foto: Stiftung Bürgermut via flickr, Lizenz: CC BY-NC 2.0

Herr Dr. Sieger, Sie sind Leiter der Bundesfachstelle Barrierefreiheit, die 2016 in Folge der Reform des Bundesbehindertengleichstellungsgesetzes eingerichtet wurde. Bitte geben Sie unseren Leser*innen einen Einblick in die Tätigkeitsfelder der Bundesfachstelle Barrierefreiheit.

Die Bundesfachstelle Barrierefreiheit hat die Aufgabe, Behörden zum Thema Barrierefreiheit zu beraten – dies umfasst die bauliche Barrierefreiheit ebenso wie die digitale sowie barrierefreie Kommunikation oder Veranstaltungen. Im Rahmen der sogenannten Erstberatung unterstützt sie insbesondere Bundesbehörden dabei, die Barrierefreiheit eigenverantwortlich umzusetzen. Hierzu beantworten wir Anfragen und stellen unser Fachwissen auf unserer Website zur Verfügung. Wir beraten aber nicht nur Bundesbehörden, sondern nach Kapazitäten auch Landesbehörden und Kommunen, Wirtschaft, Verbände und die Zivilgesellschaft. Alle Aufgaben der Bundesfachstelle Barrierefreiheit sind im Paragraf 13 des Behindertengleichstellungsgesetzes festgelegt. Zu unserer Arbeit gehört ebenfalls die Begleitung von Forschungsvorhaben, das Netzwerken und die Öffentlichkeitsarbeit.

2009 ist die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen in Deutschland in Kraft getreten. Einen wichtigen Bestandteil stellt die Verpflichtung zur Ermöglichung gesellschaftlicher und politischer Teilhabe dar. Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund den Stand der Bürgerbeteiligung in Deutschland?

Gesellschaftliche und politische Teilhabe sollte allen Menschen möglich sein. Leider ist das für Menschen mit Behinderung nach wie vor nicht ausreichend gegeben. Informationen von Behörden, aber auch von Funktionsträgern in der Politik, werden zum Beispiel häufig nicht in Gebärdensprache und Leichter Sprache bereitgestellt. So wird ein Teil unserer Gesellschaft von der Teilhabe ausgeschlossen. Denken Sie nur an die ersten Pressekonferenzen zu Corona. Dort gab es anfangs keine Gebärdensprachdolmetschung. Inzwischen aber hat sich das an vielen Stellen geändert. Trotzdem bleibt ein deutliches Ungleichgewicht, was die Beteiligungsmöglichkeiten von Menschen mit und ohne Behinderung angeht.

Digitale Bürgerbeteiligung hat in den letzten Jahren in Deutschland an Bedeutung gewonnen. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung hinsichtlich der Teilhabemöglichkeiten für Menschen mit Behinderung? In welcher Weise gleichen bzw. unterscheiden sich Zugangsbarrieren im Rahmen digitaler und analoger Veranstaltungen?

Die Digitalisierung birgt Chancen und Risiken, wobei die Chancen in der Tat überwiegen. Aber auch hier muss Barrierefreiheit von Anfang an mitgedacht werden, damit alle Menschen erreicht werden. Wenn die Website eines Amtes oder eines Amtsträgers nicht barrierefrei ist, können Menschen mit Sehbehinderung die dort veröffentlichten Inhalte nicht lesen. Wie sollen sie sich dann beteiligen können? Auch wenn es hier jetzt rechtliche Vorgaben gibt, gibt es bei der Realisierung digitaler Barrierefreiheit noch großen Nachholbedarf.

Bei Veranstaltungen ist die Barrierefreiheit ebenfalls immer ein Thema. Es gibt Unterschiede, aber auch gleiche Barrieren, die bei analogen wie digitalen Veranstaltungen entstehen können. Im Bereich der Kommunikation gibt es viele Schnittstellen: So ist das Angebot von Dolmetschung in Deutsche Gebärdensprache und in Leichte Sprache sowohl für analoge wie auch für digitale Veranstaltungen wesentlich. Während bei analogen Veranstaltungen aber auch die bauliche Barrierefreiheit wesentliche Voraussetzung ist, ist es bei digitalen Veranstaltungen noch mehr die Technik, die barrierefreien Zugang für alle herstellen können muss. Eine im Livestream übertragene Konferenz, wie wir sie im September in Rostock veranstaltet haben, erfordert professionelle Technik und entsprechend ausgebildete Spezialisten.

Welche Empfehlungen geben Sie Akteuren aus Politik und Verwaltung zur erfolgreichen Umsetzung inklusiver, digitaler Beteiligungsformate?

Wir haben auf unserer Website verschiedene Praxistipps veröffentlicht, etwa zur barrierefreien Veranstaltungsplanung und zu barrierefreien Webkonferenzen. Man muss sich ein bisschen in das Thema einlesen, aber Barrierefreiheit umzusetzen ist ja inzwischen in vielen Bereichen verpflichtend, gerade für öffentliche Stellen. Seit die EU-Richtlinie zu Websites und mobilen Anwendungen in deutsches Recht umgesetzt wurde, stehen die Vorgaben für öffentliche Stellen in Bund und Ländern fest. Und wenn man die Barrierefreiheit nicht erst in letzter Minute berücksichtigt, ist die Umsetzung von inklusiven digitalen Formaten auch ein machbarer Weg. Einiges ist längerfristig zu planen, wie die Beauftragung von Gebärdensprachdolmetschung zum Beispiel. Wir geben hierzu konkrete Tipps in unserer Checkliste zur Planung von barrierefreien Veranstaltungen. Auch erklären wir die Leichte Sprache und die Gebärdensprache und geben Hinweise zu Dienstleistern. Letzten Endes ist immer entscheidend, dass man Barrierefreiheit von Anfang mitdenkt. Dafür ist es hilfreich, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für das Thema zu sensibilisieren und teilweise auch zu schulen. Und ja, natürlich muss man dafür auch Geld in die Hand nehmen.

Was wünsche Sie sich für die Off- und Online-Partizipation in Deutschland für die Zukunft?

Wenn von Anfang an alle Bedarfe mitgedacht werden, also alle Menschen Informationen gleichzeitig erhalten, ist Partizipation auch wirklich möglich. Das erfordert, dass man andere Sprachen mitdenkt (Leichte Sprache, Gebärdensprache) und Websites, Apps, Dokumente und Software barrierefrei gestaltet. Auch wenn es inzwischen gesetzliche Vorgaben gibt, ist hier noch viel zu tun von den öffentlichen Stellen. Als folgenden Schritt sollen auch mehr private Angebote barrierefrei gestaltet werden. Hierzu gibt es eine weitere Richtlinie der EU, den sogenannten European Accessibility Act (Richtlinie über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen). Wenn diese in deutsches Recht umgesetzt ist – das wird spätestens im Juni 2022 der Fall sein – , gibt es Verpflichtungen auch zum Beispiel für den Zugang zu audiovisuellen Medien der öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehanstalten oder die barrierefreie Gestaltung von E-Books. Damit diese Verpflichtungen auch umgesetzt werden können, ist Fachwissen erforderlich, etwa bei Programmierern wie Konstrukteuren. Im Bereich der Ausbildung kommt das Thema Barrierefreiheit aber noch viel zu kurz, hier ist noch deutlicher Nachholbedarf.

Zur Person

VolkerSieger

KBS/Melanie Garbas

Dr. Volker Sieger ist Leiter der Bundesfachstelle Barrierefreiheit. Der Historiker und Politikwissenschaftler ist seit Jahrzehnten im Bereich der Barrierefreiheit tätig, Mitglied in diversen DIN-Ausschüssen sowie im wissenschaftlichen Beirat zum Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen.

Literaturhinweise

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