GoingVis

Erfahrungs- und teilhabeorientierte Klimaanpassung in Kleinstädten

Das Projekt GoingVis zeigt Lösungen, wie Kleinstädte durch gemeinschaftliches Handeln von Zivilgesellschaft und Verwaltungen klimafit werden.

© Gunnar Schenk

Kleinstädte müssen sich an den Klimawandel anpassen. Die Hitzewellen der Jahre 2018/2019 und die Flutkatastrophe im Juli 2021 haben dies eindrücklich gezeigt. Klimaanpassung betrifft alle städtischen Handlungsfelder. Sie ist daher eine zwar herausfordernde und anspruchsvolle, aber letztendlich unumgängliche Zukunftsaufgabe städtischer Akteure und Bürger*innen.

In den meisten deutschen Großstädten liegen bereits Strategien zur Anpassung an Klimaveränderungen vor. Vorgeschlagene und umgesetzte Maßnahmen fokussieren bislang vor allem die planerische und technologische Anpassung gebauter Umwelt und Infrastrukturen, wie zum Beispiel eine an Klimaveränderungen angepasste Erweiterung von Grün- und Wasserflächen im öffentlichen und privaten Raum. Im Vergleich dazu wurden Maßnahmen, die auf die Veränderung kollektiven und individuellen Verhaltens abzielen, bei der Entwicklung von Anpassungspolitiken bisher nur wenig adressiert. Zugleich kann für viele kleine Städte festgestellt werden, dass sie die vorsorgende Klimaanpassung nicht auf ihrer Agenda haben. Ein Grund dafür ist, dass vielfach die administrativen Kapazitäten für eine systematische Auseinandersetzung mit dem Thema fehlen.

Warum also nicht die Bürger*innen und städtischen Akteure als Verbündete im Prozess gewinnen? Ihre Ideen und Zukunftsvorstellungen für die Stadt im Klimawandel nutzen und gemeinsam auf sozialen Praktiken beruhende Maßnahmen zur Klimaanpassung umsetzen? Auf diese Weise kann nicht nur die Anpassung an den Klimawandel gelingen, sondern auch sozialer Zusammenhalt vor Ort gestärkt werden. Beispiele für klimaangepasste soziale Praktiken sind: gemeinsames Kümmern um Gärten und Grünanlagen, angepasste Zeiten für Arbeit und Freizeit, Schaffung von Schattenplätzen und vieles mehr.

Hier setzt das Projekt GoingVis an. Um Klimawandelanpassung in die Kleinstadt zu bringen, wird ein gemeinschaftlicher Prozess vorgeschlagen, der sich an sich an drei Prinzipien (3i) orientiert. Der Prozess ist

  • integrativ, weil Klimaanpassung an lokale Themen und Fragen anknüpft, anstelle sie als neue, zusätzliche Aufgabe zu positionieren,
  • inklusiv, weil ganz unterschiedliche Menschen und Perspektiven eingebunden werden. Dies umfasst beispielsweise Fachbereiche der städtischen Verwaltung, Akteure der Zivilgesellschaft oder Bürger*innen. Ein besonderes Anliegen ist es, „stille Gruppen“ einzubeziehen, also Menschen, die oft nicht an gesellschaftlichen Prozessen teilnehmen (können),
  • iterativ, weil Verwaltung, Politik und Bürger*innen ermutigt werden, frühzeitig gemeinsam zu handeln, Lösungswege auszuprobieren und weiterzuentwickeln.

Kleinstadt Klimafit: Ein Modell für die Praxis

Das Modell besteht aus drei ineinandergreifenden Handlungsräumen mit jeweils eigenen Erfahrungsmöglichkeiten. Ziel ist es, Menschen möglichst schnell ins gemeinsame Tun zu bringen und Klimaanpassung schrittweise in der Stadt zu etablieren.

  1. Lokales Wissen schaffen & und intermediäre Strukturen aufbauen: Welche Orte und Fragen liegen den Menschen und Akteuren in ihrer Stadt am Herzen und müssen klimafit werden? Mit dieser Frage und erfahrungsbasierten Methoden wie den GemeinsamSuchTagen wird lokales Wissen sichtbar, Menschen entwickeln Teilhabe für Ideen, die sie von Grund auf gemeinsam prägen. Um einen Rahmen für die Zusammenarbeit zu schaffen, werden intermediäre Strukturen, wie eine Plattform, vorgeschlagen (siehe unten).
  2. Zeichen setzen: Menschen finden eine Idee, die sie begeistert und die zu ihrer Stadt passt. Gemeinsam setzen sie diese in einem Projekt um. Mit diesem Zeichen wird Klimaanpassung zum Stadtgespräch, Vertrauen und Motivation entstehen. Ein Beispiel ist eine „Schatteninsel“ in der Verbandsgemeinde Liebenwerda. Gymnasiast*innen haben Grundschüler*innen Wissen zum Klimawandel vermittelt und anschließend den Schulhof bepflanzt, auf dem die meisten Bäume durch einen Sturm entwurzelt worden waren.
  3. Gemeinsam städtische Prozesse gestalten: Durch Erfahrungen und Erfolge entstehen Schneeball- und kaskadische Effekte. Klimaanpassung kann zu einem relevanten Thema für andere städtische Prozesse werden. Mit neuem Wissen und Offenheit entwickeln Politik, Verwaltung und Bürger*innen gemeinsame Konzepte für eine klimafitte Zukunft. Zum Beispiel setzt sich eine Gruppe von Ehrenamtlichen als „Stadtparkfreunde“ in Boizenburg/Elbe mit einem Patenschaftsvertrag für einen klimafitten Stadtpark ein.

Zu Beginn des Prozesses müssen sich die Initiator*innen stark einbringen, um die Relevanz von Klimaanpassung als gesamtstädtischer Zukunftsaufgabe zu verdeutlichen (siehe die Kurve „Einsatz“). Ziel ist es, über erfahrungsbasierte Methoden und das gemeinsame Tun die Motivation und Selbstwirksamkeit der teilnehmenden Menschen schrittweise zu steigern. Über kleine, gemeinsam erreichte Veränderungen wächst die Überzeugung, die Stadt gemeinsam klimafit machen zu können. So kann die Kurve „Energie, Motivation und Sichtbarkeit“ in der vorangestellten Grafik mittelfristig oberhalb der Kurve „Einsatz“ liegen und Klimaanpassung zu einem selbstverstärkenden Prozess werden.

Experience Design

Die Gestaltung von Erfahrungsräumen, in denen Menschen die Herausforderungen des Klimawandels sowie Prototypen für Lösungen zur Klimaanpassung erleben können, hat sich als zentraler Faktor herausgestellt, um Menschen in der Breite zum Mitmachen zu motivieren. Über die Erfahrungsräume wird der Klimawandel „persönlich“, Menschen werden kognitiv und emotional angesprochen und sind eher bereit sich zu engagieren. Beispiele für Erfahrungsräume sind Erlebnisspaziergänge, Pflanzaktionen oder Design-Workshops zur Gestaltung einer begrünten und mit Slogans versehenen Bushaltestelle.

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Bei den GemeinsamSuchTagen, die im Juli 2020 in Boizenburg/Elbe stattfanden, wurden 13 Expeditionen (Erlebnisspaziergänge) zu Fuß, auf dem Wasser und per Fahrrad mit insgesamt 85 Teilnehmer*innen durchgeführt. Die Boizenburger*innen konnten ihre Lieblingsplätze von heute und morgen entdecken, diskutieren und auf der Online-Karte markieren. Einzelpersonen und die Expeditionsgruppen beschrieben, wie sich der Klimawandel auf den Ort auswirkt und wie die Orte zukunftsfähig und klimafest gemacht werden könnten. Es wurden 169 Markierungen auf der Karte gesetzt.

Gemeinschaftliche Klimaanpassung institutionalisieren

Unser Modell schlägt intermediäre Strukturen vor, um den regelmäßigen Austausch von Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft auf Augenhöhe zu ermöglichen. Beispielsweise können dies Plattformen sein, die

  1. eine Schnittstelle für Verwaltung und Zivilgesellschaft schaffen,
  2. Netzwerke koordinieren, die sich aus interessierten Akteuren und Bürger*innen bilden,
  3. Sprungbrett für das Neue sind: Menschen kommen zusammen, machen gemeinsame Erfahrungen und wagen Experimente.

In der Stadt Boizenburg/Elbe wurde eine Plattform aufgebaut, die in der Verwaltung verankert ist („Plattform Zukunftsbilder Boizenburg“, kurz PLATZ-B). In der Verbandsgemeinde Liebenwerda wurde die zivilgesellschaftliche Plattform Leuchtturm LOUISE aufgebaut. Diese wird vom „Freundeskreis Technisches Denkmal Brikettfabrik LOUISE e.V.“ getragen.

Ausblick: Wettbewerb zu Trainingscamp und „Kleinstadt Klimafit“ 2022

Kleine Städte mögen oftmals strukturschwach sein, erfahrungsarm sind sie nicht.[1] Wenn Bürger*innen gemeinsam die Anpassung an Klimafolgen in ihrer Stadt mitgestalten, bleiben Kleinstädte lebendige Orte mit Vergangenheit und Zukunft. Lebensweltliche Erfahrungen zu teilen und für die gemeinsame Zukunft in der Stadt zu nutzen, wird zur wichtigen Stärke der kleinen Städte für die sozial-ökologische Transformation.

Vor diesem Hintergrund sei abschließend auf den aktuell laufenden Wettbewerb „Kleinstädte klimafit machen“ hingewiesen. Kleinstädte können sich für die Teilnahme bei einem Trainingscamp und die Begleitung über ein Jahr als „Kleinstadt Klimafit“ 2022 bewerben. Weitere Informationen finden Sie hier.

Literatur

[1] Fröhlich, P. ;  Mannewitz, T.; Ranft, F. (2022) Die Übergangenen. Strukturschwach und Erfahrungsstark. Zur Bedeutung regionaler Perspektiven für die große Transformation. Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.) Bonn. Online unter: http://library.fes.de/pdf-files/a-p-b/18522.pdf.

Autor*innen

Dominik Zahrnt berät mit seinem Unternehmen (r)evolutionäre Ideen Politik, Zivilgesellschaft und Verwaltung zu Strategie- und Organisationsentwicklung. Sein Ansatz verbindet Beteiligung, Design und Achtsamkeit. Bei GoingVis ist er für die Beteiligung, den Wettbewerb sowie Trainings und Coachings verantwortlich.

 

Johannes Tolk gestaltet Erzählstrukturen für Menschen, Dinge und Ideen in Form von Cultural Probes und Experience Prototypes, temporären Architekturen, Büchern und digitalen Formaten. Bei GoingVis entwickelte er die Webseite Kleinstadt Klimafit, unterstützt die Städtepartner durch Experience Design und führt Trainings und Coachings durch.

 

Nicole Mitchell ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt GoingVis am Forschungszentrum für Nachhaltigkeit der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der sozialwissenschaftlichen Stadt- und Klimaforschung. Gegenwärtig beschäftigt sie sich insbesondere mit der Governance von Klimaanpassung in Kleinstädten und sozialen Praktiken zur Anpassung an Hitzerisiken.

Literaturhinweise

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Christian Huesmann, Anna Renkamp, Wolfgang Petzold

Europa ganz nah: Lokale, regionale und transnationale Bürgerdialoge zur Zukunft der Europäischen Union Forschungsbericht

Bertelsmann Stiftung Gütersloh, 2022.

Abstract | Links | BibTeX

Peter Patze-Diordiychuk; Paul Renner (Hrsg.)

Methodenhandbuch Bürgerbeteiligung - Moderationsphasen produktiv gestalten Buch

oekom verlag, München, 2019, ISBN: 978-3960061724.

Abstract | Links | BibTeX

Dörte Bieler, Dr. Laura Block, Annkristin Eicke, Luise Essen

Partizipation ermöglichen, Demokratie gestalten, Familien stärken Forschungsbericht

Bundesforum Familie 2019.

Links | BibTeX

Peter Patze-Diordiychuk; Jürgen Smettan; Paul Renner; Tanja Föhr (Hrsg.)

Methodenhandbuch Bürgerbeteiligung - Bürgerbeteiligungsprozesse erfolgreich planen Buch

oekom verlag, München, 2017, ISBN: 978-3-86581-833-1.

Abstract | Links | BibTeX

Peter Patze-Diordiychuk; Jürgen Smettan; Paul Renner; Tanja Föhr (Hrsg.)

Methodenhandbuch Bürgerbeteiligung - Passende Beteiligungsformate wählen Buch

oekom verlag, München, 2017, ISBN: 978-3-86581-853-9.

Abstract | Links | BibTeX

Peter Patze-Diordiychuk; Paul Renner; Tanja Föhr (Hrsg.)

Methodenhandbuch Bürgerbeteiligung - Online-Beteiligung zielgerichtet einsetzen Buch

oekom verlag, München, 2017, ISBN: 978-3-96006-171-7.

Abstract | Links | BibTeX

Wolf Schluchter

Atommüllendlagersuche und Zivilgesellschaft Buchabschnitt

In: Jörg Sommer (Hrsg.): Kursbuch Bürgerbeteiligung #2, Verlag der Deutschen Umweltstiftung | bipar, Berlin, 2017, ISBN: 978-3942466-15-8.

Abstract | Links | BibTeX

Lars Holstenkamp; Jörg Radtke

Finanzielle Bürgerbeteiligung in der Energiewende Buchabschnitt

In: Jörg Sommer (Hrsg.): Kursbuch Bürgerbeteiligung #2, Verlag der Deutschen Umweltstiftung | bipar, Berlin, 2017, ISBN: 978-3942466-15-8.

Abstract | Links | BibTeX

Katja Fitschen; Oliver Märker

Vom Flurfunk zur Mitarbeiterbeteiligung in öffentlichen Verwaltungen Buchabschnitt

In: Jörg Sommer (Hrsg.): Kursbuch Bürgerbeteiligung #2, Verlag der Deutschen Umweltstiftung | bipar, Berlin, 2017, ISBN: 978-3942466-15-8.

Abstract | Links | BibTeX

Uta Bronner; Regina Schröter

Was können Unternehmen von Bürgerbeteiligungsverfahren lernen? Buchabschnitt

In: Jörg Sommer (Hrsg.): Kursbuch Bürgerbeteiligung #2, Verlag der Deutschen Umweltstiftung | bipar, Berlin, 2017, ISBN: 978-3942466-15-8.

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