Elke Keller: Partizipatives Wohnen heute

Die Ethnologin und Politologin Elke Keller stellt in ihrem Gastbeitrag das Konzept des partizipativen Wohnens vor und erläutert, inwiefern solche Wohnprojekte ein vielversprechendes Experiment darstellen.

Bürgerbeteiligung - Partizipatives Wohnen Foto: pixabay.com

Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Wohnform der Großfamilie das etablierte und tragfähige Modell einer verwandtschaftlichen Vergesellschaftung, doch mit Beginn der Individualisierung gegen Ende des Jahrhunderts rückte die bürgerliche Klein- bzw. Kernfamilie in den Fokus. Seitdem gilt die Formel „Vater-Mutter-Kind(er)“ als Ideal und Norm, auch im Wohnungsbau. Die (wohn-) politische Fixierung auf dieses Modell fördert jedoch weniger die Entstehung solidarischer Nachbarschaften, sondern eher die Vereinzelung aller und die Isolation bzw. Exklusion bestimmter Gruppen, beispielsweise alter Menschen. Die heute etablierten Wohnformen können somit die Bedürfnisse vieler Menschen nicht erfüllen. Diese wünschen sich ein stabiles und solidarisches Umfeld, das ihnen ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht und in dem Aktivitäten und Problemlösungen selbstorganisiert und gemeinschaftlich angegangen werden. Sie suchen und finden vielerorts Gleichgesinnte, mit denen sie eine alternative und tragfähige Wohn- und Lebensform gründen wollen: Singles, Paare und/oder Familien bilden eine verbindliche Gruppe und bewohnen gemeinsam eine Liegenschaft, deren Grundriss sowohl individuelle Wohnflächen als auch Gemeinschaftsflächen aufweist. Sie bilden sozusagen eine „Wahlverwandtschaft“.

Die Besonderheiten der neuen Wohnformen

Die Idee dieser alternativen, gemeinschaftlichen und partizipativen Wohnformen ist nicht neu. Sie rekurriert an das über 100 Jahre alte solidarische genossenschaftliche Wohnen und die Lebensform der studentischen Wohngemeinschaften ab den 1960er Jahren. Über die Jahrzehnte differenzierte sich diese Idee aus und bildet heute eine facettenreiche Szene mit über 1000 bundesweit verwirklichten Projekten. Deren Mitbewohner*innen gestalten und leben eine auf Egalität und Basisdemokratie basierende Gruppenstruktur, innerhalb derer sie sich freiwillig sowohl auf Nähe als auch Verbindlichkeit einlassen. Konzept, Struktur und Intensität werden dabei von jeder Gruppe gemeinschaftlich ausgehandelt und in einer fortwährenden Debattenkultur an neue Umstände angepasst. Unabhängig davon, ob diese Wohnformen nun als alternativ, partizipativ oder gemeinschaftlich bezeichnet werden, kann das zugrundeliegende Modell vereinfacht als „basisdemokratische Selbstorganisation des Lebens- und Wohnumfelds“ definiert werden. An diesem Punkt wird klar: Partizipatives Wohnen ist kein Modell für alle Menschen. Aber es kann besonders in der Anonymität des urbanen Raums eine vielversprechende Ergänzung sein. 

Entwicklung und Potenziale partizipativer Wohnprojekte im urbanen Milieu

Frauen, Männer und Kinder, die sich für ein solches Wohn-Experiment interessieren, brauchen einen langen Atem, denn die Umsetzung eines Projektes kann Jahre dauern. Wer dieses Mehr an Teilhabe möchte und dabei Verantwortung für sich und die Nachbarschaft übernehmen will, schließt sich deshalb entweder einer existierenden Initiative an oder gründet selbst eine Gruppe. In dieser Prozessphase ist der partizipative Charakter der Wohnform besonders ausgeprägt, denn viele gemeinschaftliche Entscheidungen müssen konsensual getroffen werden. Wie groß werden wir und nach welchen Regeln wollen wir leben? Welche Rechtsform wählen wir für unser Projekt und öffnen wir dieses zum Viertel hin? Wollen wir mieten oder bauen und wie finanzieren wir das alles? Die Beantwortung solcher Fragen ist arbeits- und zeitintensiv. Hilfreiche Tipps und wichtige Informationen können Interessierte von lokalen Beratungsstellen oder vom „Forum gemeinschaftliches Wohnen e.V., Bundesvereinigung“ erhalten. Die schwierigste Frage für Stadtprojekte ist meist die nach einer bezahlbaren Liegenschaft. Einige Kommunen haben deshalb ihre wohnpolitischen Rahmenbedingungen angepasst. Sie sind überzeugt von den sozialen, ökonomischen und städtebaulichen Vorteilen partizipativer Wohnprojekte. 

Obwohl die Potenziale gemeinschaftlicher Wohnformen vielfältig sind, bereichert bereits ihre bloße Existenz die Quartiere: Ihre Aktivitäten und ihre innere Struktur schaffen einen Mehrwert, der ihrem Haus, ihrem Quartier und ihrer Stadt zugutekommt. Wie sich dieser Mehrwert konkret zusammensetzt, ist abhängig vom Konzept einer Gruppe. So soll etwa der geschaffene Wohnraum in der Rechtsform der Genossenschaft dauerhaft bezahlbar bleiben, während gemeinschaftlich genutzte Flächen die soziale Interaktion innerhalb der Gruppe fördern. Die Idee des Teilens findet ihren Ausdruck nicht nur in Car-Sharing-Konzepten für Bewohner*innen, sondern auch im Bereitstellen von halböffentlichem Raum für Infrastrukturprojekte oder für Projekte der Nachbarschaft, seien es Kindertagesstätte, Fahrradwerkstätte oder Kunstateliers. Solche Wohnprojekte fungieren somit als Multiplikator, denn durch die Interaktion mit dem Quartier entstehen Nachahmungseffekte, die durch eine persistente Diffusion des Teilhabe- und Solidargedankens verstärkt und weiter verbreitet werden können. Und selbst aus einer positivistischen Perspektive heraus können Vorteile benannt werden, denn die Verbindlichkeit und Solidarität der neuen Wohnformen sparen mittel- und langfristig Gesundheits-, Pflege- und Unterbringungskosten ein.

Fazit: Ein gelungenes Experiment wird zur Bewegung!

Weiterführende Links:


Bürgerbeteiligung - Ethnologin Elke KellerElke Keller ist Politikwissenschaftlerin und Ethnologin. Sie beschäftigt sich mit partizipativen Wohnformen und arbeitet beim Netzwerk Frankfurt für gemeinschaftliches Wohnen e.V.

Literaturhinweise

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