Bürgerbeteiligung mit THEMIS

THEMIS ermöglicht die Wahl von kommunalpolitischen Themen als Ergänzung zur Personenwahl

Die (lokale) Demokratie steht heute vor vielzähligen Herausforderungen. Eine besteht darin, die Menschen wieder stärker am politischen Prozess zu beteiligen und dabei breite Teile der Bevölkerung mitzunehmen. In diesem Kontext werden die repräsentativen Strukturen seit einiger Zeit um neue demokratische Verfahren ergänzt. So werden etwa Informationsveranstaltungen, Workshops, Runde Tische oder Bürgerbegehren in den Kommunen durchgeführt, um politische Dialoge in den Gang zu bringen. Doch die gängigen Instrumente stoßen an ihre Grenzen. Trotz aller Bemühungen die demokratische Teilhabe zu stärken, ist zu beobachten, dass das Interesse der Menschen an der Politik abnimmt. Daher sollten auch neue Beteiligungsverfahren in den Blick genommen werden, die die repräsentativen Strukturen erweitern. In diesem Sinne kommt der Entwicklung passender demokratischer Innovationen und deren Erprobung eine zentrale Rolle zu. Mit dem »THEMIS-Verfahren« sind die Stadt Filderstadt und die Forschungsstelle Demokratische Innovationen an der Goethe-Universität in Frankfurt diesen Weg zusammen gegangen. Für alle Beteiligten ein lohnenswertes Projekt: Das »THEMIS-Experiment« war ein voller Erfolg: Fast 1000 Filderstädterinnen und Filderstädter haben 2017 teilgenommen und Einfluss auf die lokale Politik genommen.

Kooperation zwischen Politik und Wissenschaft

Dass der erste Praxistest von »THEMIS« in Filderstadt stattfand, war kein Zufall. Die Stadt Filderstadt zählt in Deutschland zu den Pionieren der Bürgerbeteiligung. Seit fast 20 Jahren werden Einwohnerinnen und Einwohner regelmäßig mit Beteiligungsverfahren intensiv in den Meinungsbildungsprozess der kommunalen Entscheidungsträger/innen eingebunden. Die Politik und Verwaltung in Filderstadt sind stets bestrebt, eine »Breite Beteiligung« der Einwohnerinnen und Einwohner zu erreichen. Diese misst sich jedoch nicht an der reinen Anzahl derer, die mitmachen, sondern vielmehr an der Vielfalt der Interessen, Meinungen und Ideen, die in die Beteiligungsprozesse einfließen und an den soziokulturellen Schichten, die sich einbringen. Die Devise lautet Vielfalt und Vielzahl. Das Ziel ist, ein vielfältiges Meinungsbild zu ermitteln und vielfältige Aspekte der Beteiligten im Beteiligungsverfahren abzubilden. Gerade wegen der großen Erfahrung ist den Verantwortlichen der Bedarf für demokratische Innovationen, die bestehende Beteiligungsverfahren sinnvoll ergänzen, bewusst.

So war die Stadt Filderstadt ein idealer Kooperationspartner für die Wissenschaftler der Forschungsstelle Demokratische Innovationen an der Universität Frankfurt, um THEMIS in einem Praxis-Experiment zu erforschen.

THEMIS-Verfahren

Entwickelt wurde das THEMIS-Verfahren von Jonathan Rinne, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle Demokratische Innovationen. Sein erklärtes Ziel war es ein Verfahren zu gestalten, welches einer breiten Masse ermöglicht, sich ohne großen Aufwand zu einer Vielzahl von Themen zu äußern; sogleich sollten die bestehenden repräsentativen Institutionen – insbesondere die Parteien – konzeptionell in das Verfahren einbezogen werden.

Das THEMIS-Verfahren setzt diese Ziele folgendermaßen um: Die Bevölkerung stimmt über thematische Programmlisten von Parteien ab und Abstimmende können durch Kumulieren (Vergabe von mehr als einer Stimme pro Thema), Panaschieren (Vergabe von Stimmen in verschiedenen Programmlisten) und Streichen von einzelnen Themen innerhalb von Programmlisten ihre Wahl den individuellen Präferenzen entsprechend ausgestalten. Die Beteiligung mit THEMIS ist dadurch für die Menschen einerseits zeiteffizient und gibt ihnen andererseits die Möglichkeit, ihre Präferenzen präzise zum Ausdruck zu bringen. Die gesellschaftliche Verwurzelung von Parteien wird zudem bei THEMIS genutzt. Sie entwickeln die zur Wahl stehenden Themen und werben für diese in der Bevölkerung. So entsteht ein Dialog zwischen Politik und breiten Teilen der Bevölkerung in dreifacher Hinsicht: Parteien kommunizieren ihre Positionen und Vorschläge an die Bevölkerung, die Bevölkerung kommuniziert ihre Präferenzen an die Politik. Und ein nicht zu unterschätzender Nebeneffekt: Die Menschen diskutieren untereinander über die vielfältigen Themen.

Das THEMIS-Experiment in Filderstadt

Der Praxistest von THEMIS 2017 in Filderstadt wurde vom Gemeinderat, der Verwaltung der Stadt und der Forschungsstelle Demokratische Innovationen gemeinsam durchgeführt. Die im Gemeinderat der Stadt Filderstadt vertretenen Parteien gestalteten die inhaltliche Dimension. Sie entwickelten mit Rückbindung zu Basis ihre Parteilisten. Pro Liste sind jeweils 15 Themen enthalten, die von den Parteien selbst formuliert und in eine Rangfolge auf der Liste gebracht wurden. Dieses Vorgehen weicht von dem sonst üblichen Verfahren ab, das die Verwaltung die Inhalte von Beteiligungsverfahren auswählt und vom Gemeinderat beschließen lässt.

Die Verwaltung war wesentlich an der Planung sowie der Durchführung des Experiments beteiligt. Insbesondere die Organisation der experimentellen Wahllokale, in denen Computer für die Abstimmung vorhanden sein mussten, aber auch die vielfältigen Mobilisierungsstrategien der Einwohnerinnen und Einwohner waren zentrale Erfolgsfaktoren. So wurde über Pressekonferenzen, -mitteilungen und Artikel im Amtsblatt auf das THEMIS-Experiment aufmerksam gemacht. Dabei wurden Filderstädterinnen und Filderstädter aufgerufen, bei dem Experiment mitzumachen. Zusätzlich wurden 10.000 zufällig ausgewählte Einwohnerinnen und Einwohner vom Oberbürgermeister persönlich angeschrieben mit der Bitte, sich an der Wahl zu beteiligen.

Die Forschungsstelle übernahm die wissenschaftliche Begleitung des Experiments und stellte die für das Experiment entwickelte Wahlsoftware von THEMIS zur Verfügung. Da die begleitende Forschung von Beginn an geplant war, war es möglich das Experiment so zu gestalten, THEMIS nach höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen zu untersuchen. So konnte etwa eine experimentelle Kontrollgruppe eingeplant werden; d.h. ein Teil der Menschen hat zusätzlich mit anderen Verfahren über die Themen abgestimmt und die Ergebnisse von THEMIS wurden dann mit den Ergebnissen der anderen Verfahren verglichen.

Ergebnisse zum THEMIS-Verfahren

Die Menschen in Filderstadt haben THEMIS äußerst positiv aufgenommen. Fast 1.000 Filderstädterinnen und Filderstädter beteiligten sich in der Woche vom 3. bis zum 9. Juli 2017 an dem innovativen Experiment. Dies übertraf alle Erwartungen. Durch den unerwartet großen Ansturm auf die Wahllokale kam es in Spitzenzeiten sogar zu längeren Wartezeiten. Die Teilnehmer/innen spiegelten übrigens weitgehend den Alters-Bevölkerungsschnitt von Filderstadt wider, auch waren 51,5 Prozent Frauen und 48,6 Prozent Männer.

Beteiligungsverfahren bergen im Allgemeinen die Gefahr, den politischen Einfluss der höheren Bildungsschichten überproportional zu erweitern. Damit könnte eine formale Ermächtigung der Bevölkerung gleichzeitig das demokratische Ideal der politischen Gleichheit unterminieren. Dementsprechend wurde im THEMIS-Experiment ebenfalls untersucht, ob Bildungsschichten THEMIS unterschiedlich gut nutzen können, um ihre Präferenzen auszudrücken. Andersherum gefragt wurde untersucht: Wie präzise bilden die THEMIS-Wahlergebnisse die Präferenzen der breiten Bevölkerung ab?

Die Ergebnisse des Experiments führen zu einer sehr positiven Bewertung von THEMIS. Die hohe Nutzung von Kumulieren und Panaschieren deutet darauf hin, dass THEMIS von den Probanden angenommen wurde. Zudem haben die Teilnehmenden Kumulieren und Panaschieren zweckrational eingesetzt: Mit dem THEMIS-Verfahren wurden die Präferenzen wesentlich präziser zum Ausdruck gebracht als mit einer klassischen Wahl von starren Programmlisten.

Hierbei ließen sich keine signifikanten Nachteile der Teilnehmer mit niedrigerem Bildungsabschluss feststellen. Dies war keineswegs zu erwarten, da THEMIS, vergleichbar mit Kommunalwahlen mit Kumulieren und Panaschieren, recht komplex ist. Auch das Alter war kein signifikanter Faktor für die Fähigkeit, mit THEMIS Präferenzen präzise auszudrücken – trotz der Nutzung eines Wahlcomputers.

Somit erwiesen sich die Befürchtungen, die für die Wahl eigesetzte Technik könnte die Wählerinnen und Wähler überfordern, als unbegründet. Das Experiment in Filderstadt belegt, dass sich theoretische Potenziale auch in der Praxis verwirklichen lassen und die Präferenzen der »breiten Bevölkerung« zu einer Vielzahl von Themen in dem Verfahren abgebildet werden können.

»Wahlergebnisse«

Nachdem dargelegt wurde, wer teilgenommen hat und wie gut THEMIS genutzt wurde, soll an dieser Stelle auch erwähnt werden, was die Filderstädterinnen und Filderstädter an die Politik kommuniziert haben: Besonders wichtig waren den Teilnehmenden des Wahlexperiments die Bereiche Infrastruktur, Bildungspolitik und Umweltschutz. Mit 1.260 Stimmen war das Thema »Verkürzung der S-Bahn-Taktzeiten und Verbesserung der Zuverlässigkeit der Verbindungen« absoluter Spitzenreiter. 1.083 Stimmen entfielen auf den Ausbau der digitalen Infrastruktur, also die flächendeckende Versorgung mit schnellem Internet. Das Thema »Verlängerung der S-Bahn-Trasse ins Neckartal« wurde mit 902 Stimmen am dritthäufigsten gewählt. Wie sich zeigte, hatten die Top-Themen eine breite Unterstützung in allen Altersgruppen erfahren. Der barrierefreie Ausbau der öffentlichen Einrichtungen und Wege spielt mit zunehmendem Alter eine größere Rolle, was sich auch im THEMIS-Ergebnis ausdrückt. Während bei den 16- bis 25-Jährigen das Thema nur auf Platz elf steht, steigt die Unterstützung mit zunehmendem Alter der Probanden Schritt für Schritt und findet sich bei den Teilnehmenden über 55 Jahren auf Platz drei.

Wirkung des THEMIS-Verfahrens

Bei dem ersten Praxistest ging es vordergründig darum, THEMIS auf seine Praxistauglichkeit hin zu untersuchen. Gleichwohl zeigt sich, dass im Experiment inhaltlich die wirklich „heißen“ Themen für Filderstadt behandelt wurden. Bei der Kommunalwahl 2019 fanden sich viele der Themen aus THEMIS in den Wahlprogrammen der am Experiment teilnehmenden Parteien. Das THEMIS-Ergebnis blieb aber nicht unbeachtet: Vier der fünf Parteien strichen die Themen von der Agenda, welche bei THEMIS in ihrer Parteiliste die wenigsten Stimmen erhielten.

Ferner wurden durch Politik und Verwaltung bereits einige Maßnahmen ergriffen, um „Wahlsieger“ des Experiments umzusetzen. Neben den Bestrebungen der Stadt gegenüber der Bahn und der Telekom die gewünschten Verbesserungen beim S-Bahn Verkehr bzw. der Internetversorgung zu erwirken, wird gerade im Gemeinderat die Umsetzung Forderung nach barrierefreier öffentlicher Infrastruktur auf den Weg gebracht. Dieses Thema erhielt im Experiment die viert meisten Stimmen.

Fazit

Die wissenschaftliche Untersuchung hat gezeigt, dass die Teilnehmenden – unabhängig vom Alter oder Bildungsniveau – das THEMIS-Programm bedienen konnten. Zu dieser Bewertung kamen die Wissenschaftler/innen, indem sie analysierten, wie gut Menschen das Verfahren verstehen und nutzen können, um ihre Präferenzen zum Ausdruck zu bringen.

Für Filderstadts Oberbürgermeister ist THEMIS ein großer Erfolg. »Es freut mich, dass es uns gelungen ist, mit der THEMIS-Wahl in der Bevölkerung große Aufmerksamkeit und damit eine große Resonanz zu erreichen«, kommentiert er den Ausgang des Experiments. »Aus dem Ergebnis können wir verlässlich ableiten, welche Themen für die Filderstädter von Bedeutung sind«, so Traub weiter. Auch wenn mit einem Experiment gestartet worden sei, werde die Stadt Filderstadt die mit THEMIS aufgezeigten Themenfelder aufnehmen.

Vom Ergebnis begeistert sind auch die Wissenschaftler/innen der Forschungsstelle Demokratische Innovationen. »Das Experiment hat gezeigt, dass das THEMIS-Verfahren praxistauglich ist und großes Potenzial hat. Das ist ein entscheidender Schritt für die Zukunft der Demokratie«, urteilt Prof. Dr. Brigitte Geißel. Auch die Stadt Filderstadt ist zufrieden. Mit der innovativen THEMIS-Wahl ist man dort dem Anspruch auf eine breite, vielfältige und kontinuierliche Bürgerbeteiligung ein ganzes Stück nähergekommen.

Weiterführende Informationen zum Projekt finden Sie hier.

Die Autoren

Jonathan Rinne, Politologe, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle „Demokratische Innovationen“ der Goethe-Universität Frankfurt (Main).

 

 

 

 

Thomas Haigis, Dipl.-Geogr., ehemaliger Leiter des Referats für Bürgerbeteiligung der Stadt Filderstadt. Haigis ist nun verantwortlich für Partizipation und nachhaltige und integrierte Stadtentwicklungskonzepte.

 

 

 

 

 

Literaturhinweise

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Partizipation ermöglichen, Demokratie gestalten, Familien stärken Forschungsbericht

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Christina Lotter, Jörg Magenau, Ute Schneider, Erich Schön, Simone C. Ehmig, Uwe Britten, Heinrich Riethmüller und Schlecky Silberstein

Aus Politik und Zeitgeschichte: Lesen Online

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