Ewigkeitslasten

Bildschirmfoto 2016-07-12 um 12.24.52Für die Mitglieder der sog. Endlager-Kommission – 16 Vertreter des Bundestages und der Bundesländer, 16 Vertreter aus Wissenschaft und Gesellschaft – ging es im Jahr 2016 um viel Arbeit, um die Fertigstellung ihres Abschlussberichts. Eines Berichts, der darlegen soll, unter welchen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kriterien in Deutschland ein Endlager für hoch-radioaktive Abfälle gefunden werden kann. Auf Basis dieses Berichts soll der Bundestag den Suchprozess nach dem Endlager auf den Weg bringen, dessen Standort bis 2031 feststehen und das 2050 betriebsbereit sein soll.

Das vorliegende Buch von Achim Brunnengräber über die Atommüllthematik kommt also zur rechten Zeit – so könnte man meinen. Doch der Autor beginnt mit dem Bekenntnis, dass es besser gewesen wäre, wenn dieses Buch niemals hätte geschrieben werden müssen (S. 7). Zumindest könne es kein erbauliches sein, weil das Thema Atommüll die Menschheit über tausende von Generationen beschäftigen werde. Und er gibt ihm deshalb den passenden Titel: „Ewigkeitslasten“.

Der Autor will uns dabei auf eine doppelte Zeitreise mitnehmen: Einmal um besser zu verstehen, warum wir inzwischen weltweit auf über 70 Jahre der unerledigten Entsorgung des Atommülls zurückblicken und zum anderen, welchen Herausforderungen wir, vor allem aber die nachfolgenden Generationen, noch konfrontiert sein könnten. Er beginnt mit einer strikten Feststellung: „Die bestmöglichen Lagerstätten für den Atommüll müssen gefunden werden. In vielerlei Hinsicht ist Pessimismus verständlich; aber Pragmatismus ist geradezu zwingend“ (S. 8). Auf die Gefahren hinweisen und gegen Atomenergie zu sein, reiche nicht mehr aus. Politik und Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft trügen insgesamt die Verantwortung, das Projekt der „Endlagerung“ zum Erfolg zu führen. Irgendwo müsse der Atommüll möglichst sicher eingelagert werden. Die Atommüllfrage sei eine äußerst dringliche Angelegenheit, die nicht mehr aus dem gesellschaftlichen Diskurs verdrängt werden dürfe. Doch er konstatiert auch das damit verbundene Paradox: „Nur zwei bis drei Generationen haben von der Atomenergie in großem Stil profitiert. Nun aber müssen die vielen nachfolgenden Generationen mit der Gefahr leben und die Kosten tragen“ (S. 8).

Das Standortthema Endlager ist also ein Thema der Vergangenheits- wie der Zukunftsbewältigung. Und darin müsse man, so der Autor, nicht nur Probleme, sondern auch Chancen erkennen: Zum einen seien die ungelöste Standortsuche und das verbleibende Restrisiko überzeugende Argumente für den weltweiten Ausstieg aus der Atomenergie. Zum anderen könne die Standortsuche einen konstruktiven Demokratieprozess bewirken, weil Öffentlichkeitsbeteiligung, Transparenz, Mitsprache und Vertrauen unabdingbare Voraussetzungen für ihren Erfolg darstellen.

In sechs Kapiteln geht der Autor diesen Fragen nach – und findet dafür inspirierende Titel: „Ausstieg, aber kein Abschied“; „Lösungen, die noch niemand kennt“, „Probleme, die keiner überschaut“, „Interessen, die gegenläufig sind“, „Neustart, der keiner war“ und „Zukunft, die schon begonnen hat“. Diese Kapitel fordern in knapper aber überzeugender Weise ein besseres Verständnis des Atommüllproblems und benennen zugleich die Herausforderungen, die damit für Wissenschaft und Wirtschaft, für Politik und Demokratie verbunden sind. In der Überwindung des fossil-nuklearen Energiesystems und im Ausbau erneuerbarer Energien sieht der Autor wichtige Schritte, auch der Standortsuche nach einem Endlager für atomare Abfälle größere Legitimation zu verleihen, in der partizipativen Gestaltung des erforderlichen Auswahlverfahrens einen entscheidenden Demokratietest.

Besondere Erwähnung verdienen auch die 18 über das Buch verteilte Themenkästen, in denen das Basiswissen über die zentralen Probleme und Fragestellungen übersichtlich zusammengestellt ist: „Warum ist radioaktiver Abfall ein großes Thema?“, „Kann im Umgang mit Atommüll von anderen Ländern gelernt werden?“, Zwischen- und Endlagerung – heißt das ‚entweder/oder‘?“, „Lassen sich die Risiken eines Endlagers bestimmen?“, „Wer muss für die Endlagerung bezahlen?“ – um nur einige zu nennen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den gesellschaftlichen Problemlagen, die in die „Endlagerung“ eingebettet sind.

Fazit: Dies ist ein äußerst lesenswertes, gut verständliches Buch zu einem hochkomplexen Thema, das viele Leserinnen und Leser verdient. Doch eine Perspektive sei gleich angefügt: Nun, nach der Vorlage des Abschlussberichts der Endlager-Kommission muss auch an weitere Studien über Arbeitsweise und Ergebnisse dieser Kommission gedacht werden, denn die Ewigkeitslasten des Atomzeitalters sind damit ja nicht entsorgt, sondern nur in eine neue Phase eingetreten.

Buchinformationen
Titel: Ewigkeitslasten
Autor: PD Dr. Achim Brunnengräber
Verlag: Nomos (in Gemeinschaft mit edition sigma)
Erscheinungsjahr: 2015
ISBN:978-3-8487-2479-6

Eine Rezension von Dr. Dr. h.c. Udo E. Simonis, Professor Emeritus für Umweltpolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und Mitbegründer der Deutschen Umweltstiftung

 

Literaturhinweise

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