Wissen als zentraler Faktor

Interviewreihe zum Status quo des größten deutschen Beteiligungsprozesses

Im Interview spricht der Geologe Ulrich Kleemann über gegenwärtige Wissensasymmetrien und die Relevanz einer neuen, kritischen Wissenschaftskultur für die nächsten Schritte der Endlagersuche.

Deutschland sucht in einem komplexen und langwierigen Verfahren den Standort zur Lagerung hochradioaktiver Abfallstoffe. Er soll laut Gesetz die bestmögliche Sicherheit gewährleisten und in einem partizipativen, wissenschaftsbasierten, transparenten, selbsthinterfragenden sowie lernenden Verfahren ermittelt werden. In unserer Interviewreihe geben wir Ihnen in den kommenden Wochen einen Einblick in den Prozess und stellen Ihnen unterschiedliche Perspektiven von Beteiligungsexpert*innen auf den Prozess vor.

Herr Kleemann, die Endlagersuche schreitet voran. Der Zwischenbericht der Bundesgesellschaft für Entsorgung (BGE) liegt vor, Gremien und Akteure wie das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE), das Nationale Begleitgremium (NBG) oder der Partizipationsbeauftragte sind installiert. Wie beurteilen Sie das Verfahren bis dato?

Die Auswahl eines Endlagerstandortes auf einer weißen Deutschlandkarte ist eine große Herausforderung für alle Akteure. Mein Eindruck ist, dass die bisherigen Arbeiten mit großer Ernsthaftigkeit und dem Willen zur Ergebnisoffenheit und Transparenz angegangen wurden. Sehr positiv bewerte ich, dass der ungeeignete Standort Gorleben aus dem Rennen genommen wurde und nun stillgelegt wird. Damit wird Vertrauen in das Verfahren geschaffen. Die Teilgebiete sind allerdings noch sehr groß, decken rund die Hälfte des Bundesgebietes ab und schaffen Betroffenheiten in fast allen Bundesländern. Das was bisher mit dem Zwischenbericht Teilgebiete vorgelegt wurde, war jedoch schon vorher bekannt. Daher wird der nächste Schritt zur Auswahl von Standortregionen erst richtig spannend, denn es muss eine Abwägung zwischen verschiedenen Wirtsgesteinen, ihrer Lage und ihrer regionalen Ausprägung vorgenommen werden. Die Beteiligungsformate sind geschaffen, konnten sich formieren und erste Erfahrungen sammeln. Insofern konnten trotz der Einschränkungen durch die Covid-Pandemie wertvolle Erfahrungen gesammelt werden. Die eigentliche Arbeit und große Herausforderung beginnt aber erst nach Auswahl der Standortregionen.

Jüngst fand die Fachkonferenz Teilgebiete statt, die der Erörterung des Zwischenberichts der Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) diente. In absehbarer Zukunft werden Vorschläge für übertägige Erkundungsgebiete auf dem Tisch liegen. Welche Empfehlungen würden Sie aus beteiligungstheoretischer Sicht den Handelnden mit auf dem Weg geben, um die kommenden Herausforderungen zu meistern?

Erfahrungen aus ähnlichen Prozessen in anderen Ländern haben gezeigt, dass die Schaffung gleicher Augenhöhe von elementarer Bedeutung für die Akzeptanz von Auswahlentscheidungen ist. Auf der einen Seite stehen die hauptamtlichen Organisationen, wie BGE und BASE, die über große personelle Ressourcen und einen erheblichen Wissensvorsprung verfügen. Auf der anderen Seite ehrenamtlich tätige Begleitgremien, wie das NBG und die zu bildenden Regionalkonferenzen. Diese müssen in die Lage versetzt werden, sich professionelle Unterstützung zu holen. Die Auswahl von Standortregionen ist ein Abwägungsprozess, der sehr stark auf geologischen Interpretationen basiert. Die geologische Community ist daher gefordert, sich aktiv in den Prozess einzubringen. Ich könnte mir vorstellen, dass zahlreiche Master- und Doktorarbeiten sich mit geologischen Teilproblemen beschäftigen. Der wissenschaftliche Diskurs muss gefördert werden.

Analog, hybrid oder digital, Selbstselektion versus Aleatorik, Stakeholder versus Bürgerbeteiligung – eine Vielzahl von Instrumenten und methodischen Bausteinen werden auch zukünftig bei der Endlagersuche kombiniert werden müssen. Was gilt es mit Blick auf den Anspruch eines lernenden Verfahrens zu beachten, um die weiteren Schritte bei der Endlagersuche erfolgreich zu gehen?

Ein lernendes Verfahren bedeutet für mich, dass Entscheidungen im Laufe des Verfahrens überprüft und nach Vorliegen neuer Erkenntnisse auch abgeändert werden können. Dies setzt voraus, dass die hauptamtlichen Akteure offen gegenüber Kritik sind und diese nicht als Majestätsbeleidigung auffassen. In der Vergangenheit war letzteres leider allzu oft zu beobachten, was zu großem Misstrauen bei ehrenamtlichen Initiativen führte. Erinnert sei an das Beispiel Prof. Duphorn, der wegen seiner kritischen Haltung zum Standort Gorleben in seiner Forschungstätigkeit erhebliche Einschränkungen erlebte. So etwas darf nicht mehr vorkommen. Um solche Fehlentwicklungen zu vermeiden, muss die kritische wissenschaftliche Diskussion aktiv gefördert werden. Zum einen durch die Bereitstellung von Fachpersonal für die ehrenamtlichen Organisationen, zum anderen durch wissenschaftliche Kolloquien und Peer-Review-Verfahren bei Publikationen.

Zur Person

Ulrich Kleemann ist promovierter Geologe und war 2004 bis 2010 als Fachbereichsleiter im Bundesamt für Strahlenschutz für alle Endlagerprojekte des Bundes zuständig. Wegen seiner kritischen Haltung zum Standort Gorleben schied er nach der Entscheidung zur Aufhebung des Moratoriums auf eigenen Wunsch aus und begleitete als Mitarbeiter der Grünen Bundestagsfraktion den Gorleben-Untersuchungsausschuss. Er war Mitglied der Endlagerkommission. Zuletzt war er Präsident der Struktur- und Genehmigungsdirektion Nord in Koblenz und bis zu seiner Pensionierung im Mai 2021 Staatssekretär im rheinland-pfälzischen Umweltministerium. Kleemann lebt in Koblenz und ist dort Mitglied des Stadtrates.

Literaturhinweise

Nicole Najemnik

Frauen im Feld kommunaler Politik. Eine qualitative Studie zu Beteiligungsbarrieren bei Online-Bürgerbeteiligung Buch

2021, ISBN: 978-3-658-34040-7.

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