Streit um Endlager-Suche

Mediator*innen distanzieren sich vom aktuellen Standort-Suchverfahren

Seit 2013 engagieren sich Vertreter der Mediatorenverbände im Endlagersuchverfahren. Jetzt kehren sie ihm frustriert den Rücken.

Am 14. Juli 2021 haben Vertreter des Fördervereins Mediation im öffentlichen Bereich e.V. (FMöB) und dem Bundesverband Mediation e.V. (BM) öffentlich erklärt, aus dem partizipativen Endlagersuchprozess auszusteigen – weil er wesentliche Versprechungen und Anforderungen an Beteiligung nicht umsetzen würde. Wir dokumentieren die Erklärung hier in vollem Wortlaut:

Mediator:innen distanzieren sich vom aktuellen Standort-Suchverfahren

Als Mediator:innen aus zwei bundesweiten Mediationsverbänden beenden wir unsere Begleitung der sogenannten Öffentlichkeitsbeteiligung bei der Standortsuche für ein atomares Endlager. Angesichts der Verfahrensmängel halten wir eine kritische Bewertung des aktuellen Verfahrens von außen für zielführender.

Wir sind Mediator:innen aus dem Förderverein Mediation im öffentlichen Bereich e.V. (FMöB) und dem Bundesverband Mediation e.V. (BM).

Wir sind Konfliktsachverständige und praktizieren in verschiedenen Kontexten Beteiligungsverfahren und Konfliktlösung „auf Augenhöhe“.

Wir haben seit 2013 intensiv die Entstehung des neuen Standort-Suchverfahrens und nun den Beginn der Standortsuche für ein Lager für hochradioaktiven Müll begleitet.

Wir haben hierzu unseren Sachverstand für ein nachhaltiges Suchverfahren wiederholt eingebracht.

Wir haben mehrere dokumentierte Stellungnahmen im Namen unserer Verbände abgegeben (diese können hier eingesehen werden), waren auf Tagungen und Konferenzen und haben Gespräche mit vielen Akteur:innen geführt.

Den Rückzug aus dem aktuellen Suchverfahren vertreten wir ausdrücklich als Einzelpersonen, um im Verfahren die Verbände nicht zu Konfliktparteien werden zu lassen. Gleichfalls möchten wir verdeutlichen, dass diese Entscheidung die gesamte langjährige verbandsübergreifende Arbeitsgruppe betrifft.

In dieser Erklärung möchten wir verdeutlichen, was uns als Mediator:innen zu diesem schwerwiegenden Schritt bewogen hat:

Versprochen und im Standortauswahlgesetz gesetzlich verankert ist ein partizipatives, wissenschaftsbasiertes, transparentes, selbsthinterfragendes und lernendes Verfahren (§ 1 Abs. 2 und § 5 Abs. 2 und 3 StandAG), um zu einer Entscheidung mit einem möglichst breit getragenen gesellschaftlichen Konsens zu gelangen (§ 5 Abs. 1 StandAG). Diese Voraussetzungen erfüllt das praktizierte Verfahren nicht.

Die seit Beginn der formalen Öffentlichkeitsbeteiligung mit den Teilgebietskonferenzen im Herbst 2020 gewählten Strukturen und Formate werden weder unseren Anforderungen an eine gelungene Bürger:innenbeteiligung (siehe unsere o.a. Stellungnahmen) noch den gesetzlichen Vorgaben gerecht.
Daher sind wir zu der Überzeugung gekommen: Wir können unsere Teilnahme an diesem Verfahren nicht weiter vertreten, weil wir mit unserer Mitwirkung diesem verfehlten Verfahren nicht zur Akzeptanzbeschaffung dienen wollen.

Wir können das gesetzlich vorgeschriebene „lernende“ Verfahren nicht erkennen:

Rückmeldungen, Evaluationen und Gespräche führen bisher nicht zu den notwendigen Veränderungen oder einer Neu-Ausrichtung des Verfahrens. Es wurden bislang ausschließlich kosmetische Maßnahmen umgesetzt, die grundlegenden Mängel des Verfahrens bleiben dagegen weiter erhalten. Das gewählte Vorgehen dient allein der politischen Legitimation, bringt aber weder Verbesserungen für das Verfahren noch für die Endlagersicherheit.

Wir möchten beispielhaft erläutern, wie wir zu dieser Einschätzung gelangen:

1. Das Verfahren leidet an grundlegenden Verfahrensfehlern im Hinblick auf
Entscheidungsgrundlagen und Transparenz.

a) Die Datengrundlage im Bericht der Bundesgesellschaft für Endlagerung
(BGE) über die potentiell geeigneten Gebiete ist unzureichend: 54% der Bundesrepublik wurden auf der Basis von Referenzdaten ohne ausreichende wissenschaftliche Grundlage als „potentiell geeignet“ ausgewiesen. Verbände und geologische Landesämter haben den Bericht als nicht gesetzeskonform gerügt (link): Damit ist bereits die Ausgangsbasis für die Teilgebiete-Konferenzen verfehlt.

b) Der Kreis der Beteiligten ist aus den unter a) genannten Gründen somit falsch ermittelt.

c) Die notwendige Transparenz der Daten ist nicht gegeben. Damit sind die zugrunde liegenden Bewertungen und die Maßstäbe der Bewertung jeder Beurteilung durch die Teilgebiete-Konferenzen entzogen.

2. Ohne Kontrolle der Basisdaten ist die notwendige Informiertheit der Beteiligten nicht gegeben. Einer Manipulation des Verfahrens stehen somit alle Türen von Anbeginn an offen.

Statt Transparenz der Daten herzustellen, wurde nun dem Nationalen Begleitgremium (NBG) die Aufgabe gesetzlich übertragen, die Daten mittels Stichproben zu überprüfen. Damit hat das NBG seine vorgesehene Rolle als neutrales und unabhängiges Kontrollgremium (§ 8 Abs. 1 StandAG) verlassen müssen und wurde als teilnehmender Akteur in das Verfahren verwickelt (zum Protest des NBG siehe dessen Pressemitteilung: link)

3. Statt eines wissenschaftsbasierten Verfahrens zieht sich politische Einflussnahme durch das gesamte Verfahren.

a) Einzelne Bundesländer haben in der Kommission massiv Einfluss genommen auf die Auswahl und Formulierung der Auswahl- und Sicherheits- Kriterien.

b) Bayern hat im Bundeskabinett versucht, den Text der Verordnung über die Sicherheitsanforderungen so zu verändern, dass Granit schlechter abschneidet.

c) Betroffene Landkreise versuchen jetzt durch Erlangen von willkürlichen Mehrheiten in der Teilgebiete-Konferenz Einfluss zu nehmen auf die Interpretation von vage formulierten Kriterien.

d) Ähnliches ist zu erwarten, wenn der Bundestag zum Abschluss jeder Phase entscheidet, welche Regionen oder Standorte im Verfahren bleiben.

Dies ist bei kontroversen politischen Prozessen nicht überraschend. Im Rahmen des Suchverfahrens müssten jedoch zentrale Konfliktthemen transparent gemacht und bearbeitet werden. Stattdessen werden diese Konflikte jedoch ausgeblendet. Dies halten wir für unverantwortlich im Hinblick auf die Verfahrensgerechtigkeit und eine transparente und breit akzeptierte Standortentscheidung mit bestmöglicher Sicherheit.

4. Die potentiell betroffene Bevölkerung ist nicht ausreichend am Verfahren beteiligt.

a) Die gewählten digitalen Formate verhindern direkte Resonanz der Teilnehmer:innen untereinander. Aktuell entscheidet die Moderation und nicht die Beteiligten selbst über die Wahrnehmbarkeit und tatsächliche Wahrnehmung von Anregungen, Fragen, Zwischenrufen, Kritik und Protest. Dies widerspricht sowohl einem „dialogorientierten Prozess“ (§ 5 Abs. 2 StandAG) als auch dem Auftrag zum „Fortentwickeln des Verfahrens“ (§ 5 Abs. 3 StandAG).

b) Die Moderation war nicht frei wählbar, sondern wurde vom Bundesamt für die Sichergeit der nuklearen Entsorgung (BASE) unabänderlich eingesetzt – sie ist damit nicht unabhängig. Die Moderation lässt zu wenig Raum für Debatten und Kritik – damit ist ein Lernen im Verfahren nicht möglich.

c) Der Auftrag des Gesetzgebers ist ein „partizipatives“ Verfahren, soll folglich eine Beteiligungstiefe mit Möglichkeiten zu Mitwirkung, Dissens, Diskurs und Konfliktbearbeitung bieten. Statt derartigen partizipativen Optionen bietet die Teilgebiete-Konferenz allenfalls Raum für Information und in Teilen Konsultation, jedoch ohne erkennbare Resonanz auf die aufgeworfenen Fragen zu Datenerhebung, zu Bewertungsfragen oder zu wissenschaftlichen Kontroversen.

d) Zwischen denen, die als künftige Betroffene beteiligt werden müssten und den tatsächlichen Teilnehmer:innen an der Teilgebiete-Konferenz klafft eine große Lücke. Dies liegt auch an der ungenauen Datenlage (s.o. unter 1.) und den damit zu breit gestreuten „potentiell geeigneten Teilgebieten“. Daraus folgend sehen sich Menschen aus möglicherweise künftig ernsthaft betroffenen Landkreisen nicht als Betroffene an und versäumen so ungewollt einen wichtigen Verfahrensschritt.

e) In einer Pandemie haben die Menschen andere Sorgen, als sich an Digitalformaten zur Standortsuche zu beteiligen – ohne echte Möglichkeiten zu Kontakt, Austausch und Mitwirkung. Den entsprechenden Appellen von Kommunen und Verbänden zur Verschiebung wegen der aktuellen pandemiebedingten Beschränkungen wurde nicht nachgekommen.

5. Kritik am Verfahren wird nicht konstruktiv aufgenommen – entgegen der gesetzlichen Vorgaben eines „lernenden“ Verfahrens (§ 1 StandAG). Weder Kritik von informierten Laien noch von Fachleuten – wie beispielsweise aus den geologischen Landesämtern – wird seitens des BASE konstruktiv aufgenommen.

Stattdessen erleben wir einen problematischen Umgang mit Kritiker:innen. Sie wurden wiederholt ignoriert, häufig in abwertender und geringschätzender Weise. Alarmierend ist, dass sich am destruktiven Umgang mit Kritik auch die Moderation der Fachkonferenz wiederholt beteiligt hat.

Wir sehen im bisher stattgefundenen Diskurs, dass weder die BGE noch das BASE gewillt sind, ergebniswirksame Änderungen zur Verbesserung des Verfahrens und somit letztlich der Entscheidungen zu treffen.

Es ist uns schwergefallen, diese klaren Worte zu finden: Wir kommen zu dem Schluss, dass es sich in diesem Verfahren nicht um Partizipation mit dem Ziel einer breiten gesellschaftlichen Beteiligung handelt, sondern lediglich um ein Zustimmungsmanagement.

Aus diesen Gründen entziehen wir diesem verfehlten Verfahren unsere Mitarbeit – wir wollen weder ein solches Verfahren noch einem etwa darin gefundenen Ergebnis die Legitimation unserer Mitwirkung bieten.

(gemeinschaftlich erarbeitet von Sascha Boettcher, Silke Freitag, Dr. Dieter Kostka und Roland Schüler im Juli 2021)

Literaturhinweise

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Politische Teilhabe von Migrantinnen*selbstorganisationen mit Fokus auf ihre Lobby- und Gremienarbeit Forschungsbericht

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Dorfgespräch - Ein Beitrag zur Demokratieentwicklung im ländlichen Raum Buch

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Bürgerbeteiligung - Praxisberatung für die Kommunalpolitik: Handreichung für die Weiterbildung von Kommunalpolitikern Online

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Politics with the People – Building a Directly Representative Democracy Buch

Cambridge University Press, 2018, ISBN: 9781316338179.

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