Logbuch der Veränderungen

Dr. Wibke Crewett erläutert das Projekt Logbuch der Veränderungen, spricht über Potentiale von Citizen Science und geht auf die Bedeutung von Bürgerbeteiligung in gesellschaftlichen Transformationsprozessen ein.

Sie haben das Forschungsprojekt “Logbuch der Veränderungen” ins Leben gerufen. Was sind die Ziele des Vorhabens und welche Ergebnisse erhoffen Sie sich?

Im „Logbuch der Veränderungen“ haben wir als Forschungszentrum [Nachhaltigkeit – Transformation – Transfer] an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde Bürgerinnen und Bürger seit dem 26. März 2020 gebeten, wichtige Beobachtungen zu coronabedingten Veränderungen im Alltagsverhalten zu dokumentieren. Meine Kolleginnen und Kollegen Uwe Demele, Benjamin Nölting, Bettina König und ich haben ein Online-Tagebuch entwickelt, in dem wir über 800 Tagebucheinträge, u.a. zu Themen wie Kommunikation, Mobilität, Konsum- und Freizeitverhalten sammeln konnten. Wir gehen der Frage nach, ob und wie die Corona-Pandemie einen Einfluss auf nachhaltige Entwicklung nehmen wird. Auf politischer Ebene sind Entscheidungen von großer Tragweite zu treffen. Wir wissen noch nicht, ob begrüßenswerte Ansätze einer an Nachhaltigkeit orientierten Wirtschaftspolitik in Angesicht von Corona Bestand haben werden, oder ob die drohende Rezession zu einem Wiederaufleben eines vornehmlich an Wachstum orientierten Paradigmas führen wird. Mit dem Tagebuch fragen wir, was auf persönlicher Ebene geschieht. Welche Verhaltensänderungen sind vorgenommen worden? Wir stellen uns und den Teilnehmenden die folgenden Fragen: Passen Sie bestimmte Routinen an oder ersetzen Sie diese durch neue? Haben Sie beim Logbuchschreiben Veränderungen entdeckt, die Nachhaltigkeitspotential haben? Wie wird eine Rückkehr zum Alltag sein? Wollen Bürgerinnen und Bürger Verhaltensveränderungen beibehalten? In unserer Analyse leiten wir ab, ob diese positive, negative oder auch keine Wirkungen in Bezug auf Nachhaltigkeit haben können.

Die schrittweisen Lockerungen in den letzten Wochen werden offenlegen, welche Veränderungen im Alltag Bestand haben werden und so zum ‚neuen Normal‘ werden. Zudem werden sie vielleicht, je nach regionalen Regelungen, unterschiedlich sein. Die Tagebücher helfen uns zu analysieren wie gesellschaftlicher Wandel in der Corona-Krise funktioniert und ob hieraus auch positive Nachhaltigkeitseffekte entstehen können.

Was passiert im Anschluss mit den gegebenen Inputs und wie werden die Teilnehmenden weiter im Verfahren mitwirken können?

Vom 26. März bis zum 10. Juni 2020 haben wir die Logbuchschreiberinnen und -schreiber gebeten, Einträge in ihre individuellen online Logbücher zu machen und ihre Beobachtungen aus dieser ersten Zeit im und direkt nach dem Corona-Stillstand‚ in der ‚neuen Normalität‘ zu dokumentieren. Nach der Sommerpause öffnen wir das Logbuch noch einmal für eine kurze Phase der Nachbefragung vom 01. bis 15. September, um mit Abstand auf diese Zeit mit ihren Veränderungen zu schauen. Wir werden die Tagebuchschreiberinnen und -schreiber fragen, wie sie im Rückblick ihre Erfahrungen mit den coronabedingten Veränderungen bewerten, welche Veränderungen im Verhalten geblieben sind, welche Veränderungen bislang Bestand haben und zu welchem ‚neuen‘ Alltag sie zurückkehren. Wir werden die Tagebücher mit verschiedenen Methoden auswerten. Einerseits werden wir detaillierte interpretative Inhaltsanalysen der Tagebücher vornehmen und parallel mit computergestützten und Algorithmus-basierten Auswertungsverfahren Verhaltensänderungen im Zusammenhang mit Emotionsausdrücken erfassen und beschreiben. Wir betreten in der Verbindung dieser beiden Methoden wissenschaftliches Neuland.

Da wir das Logbuch als bürgerwissenschaftliches Projekt entwickelt haben, wollen wir die Teilnehmenden natürlich auch nach der Datenerhebung in die Interpretation der Ergebnisse einbeziehen. Wie wir dies genau tun werden, z. B. mit einer Online-Veranstaltung oder anderen interaktiven Elementen, werden wir im Herbst anhand der Corona-Lage entscheiden und die Teilnehmenden über Möglichkeiten zur weiteren Diskussion informieren.

Das Projekt steht unter der Federführung des Forschungszentrums [Nachhaltigkeit – Transformation – Transfer] der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde. Welches Potential hat Citizen Science aus Ihrer Perspektive in der Nachhaltigkeitsforschung?

Gerade Projekte wie unseres, in dem die Bereitschaft zur Anpassung an Herausforderungen einer nachhaltigen Entwicklung untersucht werden, sind wegweisend für die Untersuchung der Handlungsspielräume für eine gesellschaftliche Transformation. Das aktive Mittun von Bürgerinnen und Bürgern sind ganz entscheidend, wenn es gelingen soll, unsere Gesellschaft für eine an die globalen Herausforderungen angepasste Lebensweise vorzubereiten. Citizen Science ermöglicht es, Bürgerinnen und Bürger in den Prozess der Wissensgenerierung einzubeziehen und so gemeinsam an der Formel ‚Vom Wissen zum Handeln‘ zu arbeiten. Auf der Basis eigener Veränderungserfahrungen durch Corona können vermutlich auch Veränderungen für eine nachhaltige Zukunft gemeinsam gedacht und die entsprechenden politischen Rahmenbedingungen angepasst werden.

Formate wie Bürgerenergie, solidarische Landwirtschaften, Urban Gardening oder Tauschläden haben in den letzten Jahren an Beliebtheit gewonnen. Viele Menschen engagieren sich in ihrem kommunalen Umfeld im Sinne einer gesellschaftlichen Transformation. Braucht es dazu auch neue Formen der politischen Beteiligung? 

Wichtig ist es, den Bürgerinnen und Bürgern Möglichkeiten zum Experimentieren mit neuen Formen gesellschaftlichen Umgangs mit den ökologischen, sozialen und ökonomischen Herausforderungen, denen wir uns gegenüber sehen, zu geben. Es braucht Raum für Experimente und Versuche. Kollektives Handeln, wie wir es in den Gartenprojekten und Tauschläden erleben, braucht Räume und Orte. An Innovation orientierte Politik muss diese Räume zur Verfügung stellen. Die reine Marktorientierung gesellschaftlichen Handelns ist nicht ausreichend, um diesen neuen, nicht profitorientierten Formen der Kooperation ausreichend Möglichkeit zur Entfaltung zu bieten. Politik muss hier unterstützen. Am Beispiel von Urban Gardening sehen wir, dass Orte des unkommerziellen Ausprobierens nachhaltiger Innovationen, unter extrem volatilen Rahmenbedingungen operieren. Eine innovative Gesellschaft sollte solche Initiativen unterstützen und schützen, gerade auch in Angesicht von Raumverknappung in den Städten. Wir können uns auch vorstellen, dass regionale Bürgerinnen- und Bürgerräte, die spezifische Fragen der Bewältigung einer Nachhaltigkeitstransformation lösen können, eine sinnvolle Ergänzung zur parlamentarischen Willensbildung sein können. Wichtig ist die Anerkennung und Unterstützung von lokal entwickelten Lösungsansätzen auf politischer Ebene.

Zur Person

Dr. Wibke Crewett ist Institutionenökonomin und Mitarbeiterin des Forschungszentrums [Nachhaltigkeit – Transformation – Transfer] der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde. Sie erforscht mögliche Wege einer nachhaltigen Wirtschaftstransformation.

Literaturhinweise

Jan Abt, Bianka Filehr, Ingrid Hermannsdörfer, Cathleen Kappes, Marie von Seeler, Franziska Seyboth-Teßmer

Kinder und Jugendliche im Quartier - Handbuch und Beteiligungsmethoden zu Aspekten der urbanen Sicherheit Forschungsbericht

2021, ISBN: 978-3-88118-679-7.

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Irmhild Rogalla, Tilla Reichert, Detlef Witt

Partii - Partizipation inklusiv Forschungsbericht

2021, ISBN: 978-3-942108-20-1.

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Stefan Löchtefeld, Jörg Sommer

Das Prinzip Haltung: Warum gute Bürgerbeteiligung keine Frage der Methode ist Buchabschnitt

In: Jörg Sommer (Hrsg.): KURSBUCH BÜRGERBETEILIGUNG #3, Republik Verlag, Berlin, 2019, ISBN: 978-3942466-37-0.

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Katja Fitschen; Oliver Märker

Vom Flurfunk zur Mitarbeiterbeteiligung in öffentlichen Verwaltungen Buchabschnitt

In: Jörg Sommer (Hrsg.): Kursbuch Bürgerbeteiligung #2, Verlag der Deutschen Umweltstiftung | bipar, Berlin, 2017, ISBN: 978-3942466-15-8.

Abstract | Links | BibTeX

Uta Bronner; Regina Schröter

Was können Unternehmen von Bürgerbeteiligungsverfahren lernen? Buchabschnitt

In: Jörg Sommer (Hrsg.): Kursbuch Bürgerbeteiligung #2, Verlag der Deutschen Umweltstiftung | bipar, Berlin, 2017, ISBN: 978-3942466-15-8.

Abstract | Links | BibTeX

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