Bundesweiter Bürgerrat gestartet

Am 29. September 2023 hat der erste vom Bundestag beauftragte Bürgerrat seine Arbeit aufgenommen. Unter dem Titel „Ernährung im Wandel“ sollen 160 Teilnehmer*innen Empfehlungen zu ernährungspolitischen Fragen erarbeiten.

Bereits seit den 1970er Jahren existieren Bürgerräte in Deutschland auf kommunaler Ebene. Ihre Anzahl wächst stetig und eine Vielzahl deutscher Städte setzt bereits Bürgerräte zu verschiedensten Themen ein. Auf kommunaler Ebene sind Bürgerräte somit ein etabliertes Beteiligungsinstrument. Auf Bundesebene hingegen ist ihr Einsatz noch relativ neu. Doch das ändert sich aktuell. Die Ampel-Regierung hat in ihrem Koalitionsvertrag umfassende Pläne für Bürgerräte auf Bundesebene formuliert. So will sie einen rechtlichen Rahmen für ihre Etablierung schaffen und sie aus Bundesmitteln finanzieren. Außerdem sollen diese Rahmenbedingungen eine gleichberechtigte Teilhabe garantieren und sicherstellen, dass sich der Bundestag mit den Ergebnissen der Bürgerräte befasst.

Vor diesem Hintergrund wurde am 10. Mai 2023 zum ersten Mal vom Bundestag ausgehend ein Beschluss für die Einsetzung eines Bürgerrates gefasst. Am 29. September 2023 wurde der Bürgerrat „Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben” durch die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas eröffnet. Diskutiert werden Themen wie die Erwartungen der Bürger*innen zur Ernährungspolitik, Bildungsfragen über das Verhältnis von Ernährung und Gesundheit oder steuerliche Bedingungen zur Preisbildung von Lebensmitteln. Die Zusammensetzung des Bürgerrats erfolgte zufällig und sollte so möglichst die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln. Die 160 Teilnehmer*innen wurden bundesweit aus allen Einwohner*innen ab 16 Jahren in einem mehrstufigen Verfahren ausgelost, wobei sichergestellt wurde, dass der Anteil derjenigen, die sich vegan oder vegetarisch ernähren, dem der allgemeinen Bevölkerung entspricht.

Insgesamt tagt dieser Bürgerrat an drei Wochenenden und in sechs digitalen Sitzungen. Im Februar 2024 soll ein finales Bürgergutachten mit neun konkreten Empfehlungen stehen. Diese sollen politisch anschlussfähig sein und sowohl im politischen als auch im öffentlichen Diskurs aufgenommen werden. Die Vorschläge sollen demnach im Bundestag diskutiert werden. Bei möglichen Abstimmungen im Bundestag zum Thema werden die Abgeordneten aber gemäß dem freien Mandat nicht in ihrer Entscheidungsfindung behindert. Die Empfehlungen des Bürgerrates sind dementsprechend nicht bindend für politische Entscheidungen. Sie sollen aber die unterschiedlichen Meinungen der Bevölkerung aufnehmen, aggregieren und in politische Debatten einbringen. Die Gesamtkosten für den Bürgerrat sind aktuell noch unklar, allerdings hat der Bundestag für die Jahre 2023, 2024 und 2025 zusammen jeweils 3 Millionen Euro für die Durchführung von Bürgerräten genehmigt.

Die amtierende Bundesregierung erhofft sich von den Bürgerräten, Bürger*innen einen direkteren Zugang zu demokratischen Willensbildungsprozessen zu ermöglichen. Abgeordneter Stephan Thomae, Teil der FDP-Fraktion, argumentiert bezüglich des Bürgerrates „Ernährung im Wandel” (ZEIT ONLINE, 11.05.2023), dass sich vor allem das Thema Ernährung gut eigne, um Bürger*innen am politischen Diskurs teilhaben zu lassen. Es handele sich dabei um eine lebensnahe Thematik, zu der jede*r Einzelne einen persönlichen Bezug habe. Dies ist für den Erfolg von Bürgerräten besonders relevant. Das Netzwerk Bürgerbeteiligung verweist darauf, dass in Bürgerräten besonders allgemeine Themen und lange Empfehlungslisten wenig Wirksamkeit zeigen (Roth 2020). Mit dem Bürgerrat „Ernährung im Wandel” wurde daher ein klar umgrenztes Thema definiert. Auch die Anzahl der möglichen Empfehlungen, die der Bürgerrat geben kann, wurde auf neun begrenzt. Damit soll verhindert werden, dass der Bürgerrat nur eine lange Liste an Unverbindlichkeiten produziert.

Die Einsetzung des beschlossenen Bürgerrates sorgt aber auch für kritische Stimmen, insbesondere aus den Reihen der CDU. Philipp Amthor, Vertreter der CDU-Fraktion, kritisiert, dass die Etablierung von Bürgerräten auf Bundesebene der Entwicklung einer Entparlamentisierung Folge leiste und dass Bemühungen um mehr Bürgerbeteiligung nicht das Konzept der repräsentativen Demokratie auflösen dürften (SZ ONLINE, 18.07.2023). Auch der Lebensmittelverband Deutschland sieht die Einsetzung des Bürgerrates kritisch. Hauptgeschäftsführer Minhoff bemängelt zusätzlich das Losverfahren als willkürlich und hinterfragt, wie repräsentativ eine ausgewählte Gruppe von Bürger*innen sein kann (Lebensmittelverband Deutschland, 11.05.2023). Minhoff beanstandet außerdem die generelle Einmischung des Staates in das Thema Ernährung. Dies sei Persönlichkeitsrecht und nicht Aufgabe der Politik. 

Die finalen Ergebnisse des Bürgerrates „Ernährung im Wandel“ werden im Februar 2024 feststehen. Eine endgültige Evaluierung der Arbeit des Bürgerrates steht deshalb noch aus. Es ist allerdings bereits jetzt beschlossen, dass der Bundestag bis Ende 2025 zwei weitere Bürgerräte zu bundespolitischen Themen einberufen will. Um welche Themen es sich genau handelt, steht noch nicht fest. Die Pläne der Ampel-Regierung zeigen allerdings, dass sich Bürgerräte abseits der kommunalen Ebene auch auf der Bundesebene etablieren sollen. Es bleibt abzuwarten, ob und inwiefern sich die Ergebnisse auf Entscheidungen des Bundestages auswirken werden und inwieweit Bürgerräte auf diesem Level demokratiefördernd sein können.

Roth, Roland (2020). Auf der deliberativen Welle reiten? Anmerkungen zur Karriere von Losverfahren in der Bürgerbeteiligung. Newsletter Netzwerk Bürgerbeteiligung 02/2020 vom 02.07.2020. Online abrufbar unter https://www.netzwerk-buergerbeteiligung.de/fileadmin/Inhalte/PDF-Dokumente/newsletter_beitraege/2_2020/nbb_beitrag_roth_200702.pdf

 

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