Die Endlagersuche in der Schweiz – und was wir daraus lernen können

Mitglieder der deutschen Endlagerkommission im Schweizer Zwischenlager, Foto: Wolfram Kudla

Autor: Jörg Sommer

Eine breit aufgestellte Delegation der Endlagerkommission reiste Anfang Juni in die Schweiz, um sich über das dortige Endlagersuchverfahren zu informieren.

Teilnehmer waren die Kommissionsvorsitzende Ulla Heinen Esser, die Abgeordnete Sylvia Kotting-Uhl, die drei Wissenschaftsvertreter Ulrich Kleemann, Bruno Thomauske und Wolfram Kudla sowie die Vertreter der Zivilgesellschaft Erhard Ott (ver.di), Hans Jäger (RWE) und Jörg Sommer (Deutsche Umweltstiftung).

Obwohl die deutsche Delegation die gesamte politische Breite der Endlagerkommission abbildete und wir auch auf Seiten der Schweizer Gastgeber Stimmen aus allen politischen Lagern zu hören bekamen, ergab sich am Ende auf Seiten der deutschen Delegation eine in überraschend vielen Punkten übereinstimmende Einschätzung. Die Kurzfassung dieser Einschätzung lautet:

Wir können von der Schweiz vor allem lernen, wie wir es NICHT machen sollten.

Dies hängt, um es deutlich zu sagen, nicht damit zusammen, dass die Organisatoren in der Schweiz ein schlechtes, fehlerhaftes oder vom Scheitern bedrohtes Verfahren praktizieren würden. Es gibt über die Tiefe und Qualität der dortigen Beteiligung innerhalb der deutschen Delegation durchaus unterschiedliche Einschätzungen. Einig waren sich alle Delegationsmitglieder aber darin, dass das Schweizer Verfahren nur vor dem Hintergrund der Schweizer politischen Kultur und der anderen Schweizer Vorgeschichte sinnvoll erscheinen kann. Die größten, prägenden Unterschiede sind:

  • In der Schweiz gibt es umfangreiche Erfahrung mit Formen der direkten Demokratie und damit eine Bürgerschaft, die selbstbewusst und entspannt auf politische Prozesse blickt, weil sie weiß, dass die Zivilgesellschaft selbst ggf. auch noch nach deren Abschluss korrigierend eingreifen kann.
  • In der Schweiz gibt es auf Seiten der Politik eine hohe Akzeptanzorientierung bei Entscheidungen. Die Frage „Würde diese Entscheidung eine Volksabstimmung überstehen?“ schwebt von Anfang an über jedem Prozess.
  • In der Schweiz sind harte politische Auseinandersetzungen und konfliktorientierte Kampagnen kaum Bestandteil der politischen Kultur.
  • In der Schweiz ist das Grundvertrauen in politische Prozesse größer als bei uns. Das Vertrauen in die Wissenschaft sogar um ein Vielfaches höher.
  • Auch die Schweiz hat einen hohen Anteil der Bevölkerung, der den Ausstieg aus der Kernenergie wünscht, allerdings in Bezug auf die Endlagersuche keine mit den Gorleben-Erfahrungen vergleichbare Vorgeschichte.
  • In der Schweiz kann deshalb ein gewisses Grundvertrauen in die Akteure der Endlagersuche (Politik, Verwaltung, Wissenschaft, Wirtschaft) vorausgesetzt werden.

Diese grobe Zusammenfassung zeigt bereits, dass die Grundbedingungen gegenüber unserer deutschen Situation völlig andere sind. Der Schweizer Prozess kann Vertrauen voraussetzen, muss sich nicht der Frage der Legitimierung stellen und kann sich damit vollständig auf Akzeptanz konzentrieren. Das führt in der Schweiz zu einem völlig anderen Verfahren, dass grob gesagt die Standortauswahl der Wissenschaft, Wirtschaft und Politik überlässt und die Bürger lediglich regional in der Ausgestaltung einbezieht – allerdings eine mögliche nationale Volksabstimmung in Betracht ziehen muss.

In Deutschland haben wir eine lange, bis heute nicht gelöste und schon gar nicht aufgearbeitete konfliktreiche Vorgeschichte um den Standort Gorleben. Wir haben insgesamt und insbesondere in der Atompolitik sowie noch einmal verschärft in der Endlagersuche bei vielen Akteuren kein Grundvertrauen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Wir haben bislang im Verfahren keinerlei Elemente der direkten Demokratie und auch keine Option einer nachträglichen Legitimierung oder Korrekturen durch eine Volksabstimmung, wir haben wenig Erfahrungen mit direkter Demokratie bei allen Beteiligten, auch bei den Bürgerinnen und Bürgern.

Wir stehen in Deutschland am Anfang eines Prozesses, der Vertrauen nicht voraussetzen kann, sondern erst schaffen muss, dessen Legitimität (z.B. des Akteurs Endlagerkommission) umstritten ist, der sich also nicht nur der einen Dimension Akzeptanz widmen kann, sondern alle vier Dimensionen (Legitimierung, Akzeptanz, Qualität, Emanzipation) gleichermaßen annehmen muss.

Das aktuelle Beteiligungskonzept an der Kommissionsarbeit sieht das vor – ebenso wie ein Lernen aus den dabei generierten Erfahrungen. Mit den diesen Erfahrungen werden wir grundsätzlich ein solches Verfahren für den eigentlichen Suchprozess entwickeln können.

Die weitestgehend übereinstimmende Einschätzung des Schweizer Verfahrens durch die Mitglieder der deutschen Delegation stimmt mich in dieser Hinsicht vorsichtig optimistisch.

Exkurs: Die Frage eines regionalen Vetos

Wenn ich zuvor geschrieben habe, dass wir in der Schweiz in erster Linie Prozesse und Formate kennengelernt haben, die bei uns in Deutschland so nicht übertragbar sind, so gab es in einer Hinsicht eine genau gegenteilige Erfahrung: Das Schweizer Verfahren sieht ein Vetorecht der letztlich betroffenen Region nicht vor.

Marcos Buser, Nuklearexperte und einer der „Väter“ des Schweizer Verfahrens hat uns gegenüber aber genau diesen Punkt als „einen größten Fehler“ bezeichnet.

Er hält zumindest die Option eines von ihm so genannten „Sachvetos“ für geboten, bei dem die betroffene Region zum Ausdruck bringen kann, dass sie von Prozess/Kriterien/Entscheidungen (noch) nicht überzeugt ist und so die Verantwortlichen zu weiteren Informationen und Dialogen verpflichtet, bevor der Prozess fortgesetzt werden kann.

Innerhalb der deutschen Delegation wurde dieses Sachveto mehrfach diskutiert und trotz unterschiedlicher Grundeinstellungen zu Fragen der direkten Demokratie durchaus als ein ernsthaft zu prüfender Baustein eines gelingenden Beteiligungsprozesses anerkannt.

Die Kommission, insbesondere die AG Öffentlichkeitsbeteiligung, wird sich mit diesem Thema noch ausführlicher beschäftigen.

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