Erfolgsgeschichten

Marginalisierung und Partizipation

Die vhw-Schriftenreihen No. 22 (2021) widmete sich dem Problem geringer politischer Partizipation von marginalisierten Menschen. Wie gelingt sie und welche Faktoren begünstigen die Politisierung?

Das Forschungsprojekt „Neue Beteiligung und alte Ungleichheit? Politische Partizipation marginalisierter Menschen. Abschlussbericht” vom vhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e. V. untersucht das Spannungsfeld zwischen politischer Partizipation und sozialer Ungleichheit. 

Mithilfe qualitativer Expert*inneninterviews sollte zum einen erörtert werden, welche Motivationen und Charakteristika marginalisierte, jedoch politisch aktive Menschen innehaben. Zum anderen, welche Partizipations- und Engagementverfahren von dieser Gruppe bevorzugt werden. Abschließend werden praktische Handlungsempfehlungen gegeben.

Marginalisierung im Kontext

In der Forschungsliteratur existiert keine allgemeingültige Definition von Marginalisierung, da sie konzeptionell stets normativ vom Forschungsinteresse geleitet wird. Im Kontext der Forschungsarbeit stehen solche Personen und Gruppen im Fokus, die „am Rande der Gesellschaft stehen, bzw. nicht vollständig integriert sind”. Das Gefühl von Marginalisierung steht hier ebenso im Vordergrund, wie objektive Kriterien, beispielsweise das Einkommensniveau oder die Anzahl sozialer Kontakte. Somit sind messbare wie gefühlte Faktoren maßgeblich, um als „marginalisierter Mensch” im Verständnis des Forschungsprojekts zu gelten. 

Ursachen

Es wird zunächst zwischen individuellen und institutionellen Faktoren unterschieden: Die individuelle Ebene beschreibt die sozioökonomische Benachteiligung. Die institutionelle bezieht sich vor allem auf fehlende Partizipationsmöglichkeiten und -rechte bestimmter Bevölkerungsteile, wie beispielsweise Menschen mit Migrationsbiographien. Gemeinsam begründen und manifestieren sie die politische Benachteiligung. Die größten Marginalisierungsrisiken tragen demnach Menschen mit Behinderung/Erkrankung, Migrierte, (Langzeit-)Erwerbslose, Alleinstehende, Alleinerziehende, Menschen im (Vor-)Ruhestand, Betroffene häuslicher Gewalt, Straffällige, Schulabbrecher*innen, prekär Beschäftigte und Obdachlose. Im Verlauf des Forschungsprojekts wurde außerdem deutlich, dass häufig auch multiple Marginalisierung vorliegt, also die Betroffenheit durch mehrere Marginalisierungsrisiken.

Problem

Marginalisierte Menschen verbrauchen einen Großteil ihrer Ressourcen für grundlegende Bedürfnisse. Für Menschen mit Behinderung stellt sich zudem die Frage nach umfassender Barrierefreiheit von Partizipationsangeboten. Zeitintensive Beteiligungsmöglichkeiten schließen prekär Beschäftigte und Alleinerziehende aus. Sozioökonomische Benachteiligung kann dialogische Instrumente erschweren, da häufig kommunikative Hemmschwellen bestehen. Für Menschen mit Migrationserfahrung sind vor allem Sprachbarrieren und Diskriminierung zentrale Problemlagen politischer Partizipation. 

Die politische Marginalisierung reproduziert sich selbst. Fehlenden politischen Kenntnissen folgen politische Teilnahmslosigkeit und Abkoppelung. Zudem fällt es den Betroffenen oft schwer, die eigene Interessenlage zu beurteilen. Wenn die Gruppe marginalisierter Menschen zudem noch äußerst heterogen ist, kann eine umfassende Partizipationslösung nur schwer erreicht werden. 

Befunde

Zur Beantwortung der Forschungsfragen wurden Interviews mit marginalisierten Menschen geführt, die sich aktiv politisch beteiligen. Dafür wurden zunächst im Ruhrgebiet, wo insgesamt eine stark ausgeprägte Marginalisierungsquote herrscht, und in Hamburg, einer Stadt mit großer Disparität zwischen wohlhabenden und weniger privilegierten Stadtteilen, Beteiligungsformate in „benachteiligten“ Stadtteilen gesichtet. Im nächsten Schritt wurde Kontakt zu den dort Verantwortlichen und Aktiven aufgenommen. Aus dieser Kontaktaufnahme heraus wurden 13 Interviews mit Personen geführt, welche jeweils unterschiedlichen, teils multiplen Marginalisierungen ausgesetzt sind und aus verschiedenen Beteiligungsformaten angeworben wurden.

Das erfreuliches Ergebnis: Die betrachteten Beispiele zeigten, dass bei gezieltem Nutzen und Aufgreifen der Ressourcen und Interessen die politische Beteiligung gelingt. Die Befragten engagierten sich aus Spaß an der Beteiligung, politischem Interesse und aus Gründen der Informationsgewinnung. Darüber hinaus wurde Partizipation auch als Möglichkeit des sozialen Austauschs genutzt. Die politische Partizipation, so der Forschungsbericht, wurde als Bewältigungsstrategie struktureller Benachteiligung genutzt. Durch Beteiligung wurden Kompetenzen erworben und eine positive Konstante in den jeweiligen Biographien geschaffen. Der Charakter wurde gestärkt, die soziale Isolation abgebaut. Herausfordernde Situationen wurden sinnstiftend, wenn der entsprechende „Kampfgeist” erworben wurde. Zudem konnte bei vielen Interviewten aufgezeigt werden, dass Wirksamkeitserwartung es erst ermöglichte, politisch zu partizipieren, auch bei vorhandener negativer Einstellung gegenüber der institutionalisierten Politik und den dazugehörigen Akteuren. Durch kreative Beteiligungskonzepte wurden auch Menschen beteiligt, die in der zeitlichen Ressource beschränkt sind: Diese Menschen engagieren sich beispielsweise durch Öffentlichkeitsarbeit im privaten Umfeld oder mittels Tätigkeiten in Bereichen, die nicht auf kontinuierliche Mitarbeit angewiesen sind. Weiterhin konnte bei den Befragten eine zunehmende Politisierungstendenz wahrgenommen werden, da durch das eigene Engagement strukturelle Probleme eher wahrgenommen wurden.  

Im Ergebnis der Forschungsarbeit konnten 16 Erfolgsfaktoren erarbeitet werden, die die politische Partizipation marginalisierter Menschen befördern können.

In der Organisation selbst

  • Stadtteil-Arbeit (Netzwerk durch Nachbarschaft, Identitätsstiftung)
  • Verzicht auf Mitgliedsbeiträge für finanziell Schwache
  • Entwicklung offener und fairer Kommunikationsräume
  • Mehrwerte der Marginalisierten erkennen (Multiplikator*innen, Fachleute)
  • Nutzung barriere- und kostenfreier Räume (ohne Bestellpflicht etc.)
  • Analyse der im Stadtteil existenten marginalisierten Gruppen und ihrer Bedürfnisse
  • Mobilisierung von Engagierten in Statuspassagen
  • Einrichtung niedrigschwelliger Treffen (bspw. kostenfreier Mittagstisch am Wochenende etc.)
  • Gewährleistung eines flexiblen und vielseitigen Engagementangebots
  • Online-Beteiligung und Kinderbetreuung vor Ort
  • Rhetorik-Workshops und inhaltliche Fortbildungen zu Themen der Organisation
  • Bereits engagierte marginalisierte Gruppen zur Übernahme von Aufgaben ermuntern
  • Kooperation mit (Kultur-)Dolmetschenden 

Durch den Staat

  • Einrichtung runder Tische mit den Organisationen als Teilnehmerinnen zur Sicherstellung der Interessenrepräsentation von Marginalisierten
  • Finanzierung von Mitarbeitenden-Stellen bei gemeinnützigen Organisationen
  • Bekämpfung sozialer Ungleichheit und der Marginalisierungsfaktoren

Fazit

Forschungen im Feld Marginalisierung und Politisierung können verschiedenen Ergebnisse attestieren. Der normative Rahmen wird die Forschungs(aus)richtung maßgeblich bestimmen. Sind marginalisierte Menschen weniger politisch? Ja, aber vor allem Nein. Das Ergebnis der Studie hat gezeigt, dass häufig keine passenden Angebote für „benachteiligte“ Menschen existieren. Wurden sie geschaffen, dann ist die entsprechende Nutzung oft ein nutzbringendes Angebot für marginalisierte Bevölkerungsteile. Die vhw-Studie lädt zu weiterführender Exploration des interdisziplinären Forschungsfeldes ein und leistet einen wichtigen Beitrag, um eine tiefgreifende Politisierung der Zivilgesellschaft zu erreichen. Darüber hinaus zeigt die Forschung, dass politische Partizipation einen wichtigen Beitrag zur Integration leisten kann. Sie erhöht außerdem zugleich die politische Legitimation von Entscheidungen. Zunehmender Zusammenhalt und Multiperspektivität stellen einen deutliches Plus in puncto Demokratiequalität in Deutschland dar.

 

Die äußerst lesenswerte Studie können Sie hier abrufen.