Virtuelle Beteiligung, realer Erfolg

Foto: Ryan Resella via flickr.com, Lizenz: CC BY 2.0

Dass es vorschnell sein könnte, sinkende Wahlbeteiligung mit einer Entpolitisierung der Gesellschaft gleichzusetzen, wurde bereits an anderer Stelle auf dem BBlog thematisiert. Dennoch gibt es viele Vertreter der Überzeugung, dass in den postindustriellen, individualisierten Gesellschaften Gemeinwohlorientierung und gesellschaftliche Partizipation Anachronismen sind. Vor dem Hintergrund sinkender Mitgliederzahlen bei den ehemals stolzen Volksparteien malen sie ein düsteres Bild für die Zukunft der Demokratie.
Nicht so der Gründer von change.org, Ben Rattray, der in einem Interview mit TheEuropean vielmehr eine Brücke zwischen soziokultulurellen Entwicklungen, technischem Fortschritt und Beteiligungsverständnis schlägt: „Ich denke, dass die meisten jungen Menschen nicht Demokratie als solche ablehnen, sondern die Art, wie sie in weiten Teilen des Westens praktiziert wird. Junge Menschen leben in einer schnellen Welt, in der sie mehr Auswahl und mehr Freiheit haben als je zuvor: Das gilt für die Art des Konsums, die Weise der Kommunikation und die Möglichkeiten der Selbstdarstellung. Diese Lebensweise steht im Gegensatz zu dem, was junge Menschen in der Politik erleben: Bei dem, was dort geschieht, haben sie wenig Auswahl und am Ende auch keine Kontrolle. Auf ihr tägliches Leben wirkt Politik zuerst langsam, dann unempfänglich für ihre Anliegen und am Ende irrelevant.“

Worum geht es bei change.org?

Change.org ist eine Internetplattform, die Menschen die Möglichkeit bietet, Petitionen zu starten oder sie zu unterstützen. Nach eigener Aussage hat das Portal bereits 125 Millionen Aktivisten und weltweit werden monatlich über 30 000 neue Petitionen angestoßen.

Über Change.org können Millionen Gleichgesinnte online erreicht und für ein Anliegen mobilisiert werden.

Die Petitionsursachen sind bunt gemischt und reichen im deutschen Kontext bspw. von der Forderung gegen die Reaktivierung der Atommeiler Tihange und Doll über den Wunsch nach einem einheitlichen Pfandsystem in Europa bis hin zur virtuellen Unterschriftenaktion gegen die Sanktionierung von Sonntags geöffneten Spätis – das sind kleine „Tante Emma“-Läden in Berlin.

Wie funktioniert change.org

Der Ablauf auf der Internetseite ist denkbar einfach: Wer ein Anliegen hat, gründet mit einem Mausklick eine neue Petition und wird durch eine Eingabemaske geleitet, in der er zunächst sein Anliegen betitelt und den potentiell adäquaten Adressaten der Onlinepetition nennt, ehe er sein Problem darlegt.
Nachdem er seine Petition erstellt hat, können andere Besucher der Plattform die Petition ansehen und im Falle einer persönlichen Betroffenheit virtuell unterschreiben, indem sie ihren Namen und ihre Postleitzahl eintragen.

Wirkung, Resonanz und Kritik

Die nachfolgenden Videos geben einen Einblick, wie change.org wirkt, welchen Einfluss es bisher generieren konnte und was die Intentionen der Unterzeichner sind:

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Dennoch wird change.org nicht von allen Seiten positiv beurteilt. Dies liegt auch am teilweise unglücklichen Auftreten der Plattform. So legt die Bloggerseite Ruhrbarone.de dar, dass zeitgleich eine Anti-Pegida und eine Pro-Pegida-Petition auf change.org kursierten. Diese möglicherweise falsch verstandene Neutralität seitens change.org ist demnach umso problematischer, da Pegida offensichtlich gegen das in den Richtlinien der Plattform niedergelegten Prinzip der Neutralität gegenüber Religion und Herkunft verstößt und Fremdenfeindlichkeit hofiert.
Zudem kritisieren Datenschützer den lockeren Umgang mit Datensicherheit. Unter anderem war die amerikanische Unternehmensmutter in die Schlagzeilen geraten, weil eine für Außenstehende nicht erkennbare Weitergabe der Mail-Adresse an Unternehmen/Organisationen erfolgte: Wenn ein Nutzer von change.org eine Petition unterzeichnete, gab es zeitgleich passende Pop-ups von Organisationen, die in dem Themenfeld aktiv sind. Markierte der Nutzer, dass er über die Fortentwicklung dieser Pop-ups informiert werden möchte, akzeptierte er ohne weitere Kennzeichnung, dass das betreffende Unternehmen seine Mail-Adresse erhält und ihn zukünftig kontaktiert. Change.org profitierte dabei monetär von der Weitergabe der Daten.
Noch drastischer formuliert der Datenschutz-Experte Thilo Weichert im Interview mit Heise online seine Kritik: „Letztlich gibt es keine Sicherheit, dass die sensiblen persönlichen Daten über politische Meinungen nicht bei US-Behörden oder sogar bei der NSA landen.“

Fazit

„Menschen werden nicht apathisch geboren, sondern sie werden es, weil die vorhandenen Mittel sie davon überzeugen, nichts bewirken zu können“, so die Worte des eingangs angesprochenen change.org Gründers Rattray in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Ihnen wohnt viel Wahres inne: Nur wenige Menschen werden sich für etwas einsetzen, obwohl sie glauben, keinen Einfluss zu haben. Außerdem entspricht die Unverbindlichkeit und zeitliche sowie örtliche Ungebundenheit der Teilhabe im Rahmen von e-Petitionen den individualisierten Work-Life-Strukturen vieler westlicher Dienstleistungsgesellschaften. Mehr denn je erlauben sie eine punktuelle Interessenartikulation, fernab von einer regelmäßigen Auseinandersetzung mit allen Punkten in einem dicken programmatischen Wahlprogramm einer Partei. Allerdings sind auch Risiken und Probleme deutlich geworden, die allerdings wenigstens zum Teil anbieterverschuldet sind. Dennoch bleiben viele Fragen zu den Chancen, Risiken und Grenzen bei e-Partizipation ungeklärt, was auch daran liegt, dass wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema bisher rar sind. Problematisch ist zudem auch, dass die Empfänger der Petitionen antizipieren, dass eine große Unterschriftenresonanz viel einfacher erreichbar ist als früher. So führt Kathrin Voss, eine Kommunikationsberaterin, die Bundestagsabgeordnete zu dem Thema befragt hat, im Deutschlandfunk aus: „Sie nehmen die Unterschriften schon zur Kenntnis, wobei, wenn man sie dann fragt, nehmen sie dieselbe Anzahl von Leuten bei einer öffentlichen Demonstration sehr viel mehr wahr. 50.000 Unterschriften oder 50.000 Leute auf der Straße, ist natürlich schon etwas ganz anderes.“
Vor dem Hintergrund sinkender Resonanz steht es außer Frage, dass herkömmliche Partizipationsinstrumente um neue Formen ergänzt werden müssen. Spannend wird sein, welche Rolle Plattformen wie change.org dabei langfristig spielen können und inwieweit reale Handlungsbereitschaft in Form kommunaler Teilhabe durch virtuelle Partizipation beeinflusst wird.

 

 

 

 

Literaturhinweise

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