Viele Augen sehen mehr als zwei

Konsultative Beteiligung bindet Bürger ein, indem sie diese um ihren Rat bittet. Ein Beispiel dafür sind die ‘evidence check’-Webforen in Großbritannien, in denen von Ministerien erarbeitete Stellungnahmen auf ihre Stichhaltigkeit geprüft werden.

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Was tun Menschen, wenn sie eine wichtige Bewerbung schreiben, eine Hausarbeit verfassen oder eine neue Website entwerfen? Sie bitten andere, einmal drauf zu schauen. Denn fast jeder Entwurf wird besser, wenn ihn jemand aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, Fehler findet und Verbesserungen vorschlägt. Dieses Prinzip wurde in Großbritannien in den vergangenen Jahren in der Politik angewendet, indem Webforen für konsultative Beteiligung eingerichtet wurden.

Die Bürger um Rat fragen

Die sogenannten Evidence Checks wurden zu sehr breit gefächerten Themen aus Bildung und Wissenschaft/Technik angeboten. Dort wurden von den jeweils zuständigen Ministerien erarbeitete Stellungnahmen zu Gesetzesentwürfen mit ihren verwendeten Quellen hochgeladen. Bürger und Interessierte aus Wissenschaft und Praxis überprüften diese auf ihre Stichhaltigkeit und Vollständigkeit und konnten Verbesserungspotenziale benennen. Im nachfolgenden (englischsprachigen) Video erklärt Graham Stuart, Mitglied des Komitees für Bildung, euphorisch den 2014 erfolgten Konsultationsprozess zu diversen Bildungsfragen.

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Eine Schwierigkeit wurde 2014 jedoch deutlich: Anders als in breit angelegten Bürgerdialogforen zielte das vorliegende Format darauf ab, lediglich eine partizipative Faktenüberprüfung zu erreichen. Es wurde nicht der Anspruch verfolgt, auf breiter Ebene die Meinung der Bevölkerung zum jeweiligen Thema abzufragen. Da es sich bei der im Video behandelten Schul- und Bildungspolitik traditionsgemäß jedoch um ein brisantes Thema handelt, bei dem Eltern emotional reagieren, war die Resonanz in der Bevölkerung erwartungsgemäß hoch. Entgegen der angestrebten Idee des Formats entwickelte sich eine hitzige, emotionale und hauptsächlich meinungsgetriebene Debatte, die nicht mehr viel mit der ursprünglichen Idee eines partizipativen Faktenchecks gemein hatte.

Die Behörden schlussfolgerten daraus, dass es einer stärkeren Strukturierung des Beteiligungsangebotes bedarf. Das Komitee für Wissenschaft und Technik veränderte daraufhin 2016 die Anforderungen an die Kommentarabgabe in seinem ‘evidence check’-Forum. Die Interessenten wurden nun gebeten, sich an fünf Leitfragen zu orientieren und diese in ihrem Beitrag zu behandeln. Des Weiteren behielt sich das Komitee vor, die Beiträge zu „moderieren“, also solche zu filtern, die nicht den Vorgaben entsprachen.

Dadurch erhöhte sich zwar die Qualität der Debatte, jedoch verlief die Meinungsbildung nicht mehr wirklich transparent. Ein derartiges Vorgehen kann insbesondere bei strittigen Themen zum Problem werden, wenn kritische Stimmen eine meinungsgefärbte Moderation des Forums vermuten. Oder wenn die Kriterien, nach denen gefiltert wird, unklar, streitbar bzw. widersprüchlich sind oder nicht konsequent angewendet werden. Außerdem erhöht sich damit potenziell die Schwelle für Bürger, die im Stande sind, wertvolle Beiträge zu leisten, aber nicht über ausreichende schriftliche und/oder analytische Fähigkeiten verfügen, diesen formalen Anforderungen zu entsprechen. Experten und gut organisierte Interessen bleiben deshalb in der Debatte im Vorteil.

Gemeinsam mehr wissen?

Evidence Checks sind eine interessante Idee, da sie das Wissen der Öffentlichkeit in Entscheidungsprozesse einbeziehen können und so alle verfügbaren Informationen in politische Verfahren einbinden. Gerade in Zeiten hitziger Debatten um „Fake News“ ist die Existenz einer transparenten Informations- und Entscheidungsgrundlage fundamental. Allerdings handelt es sich bei dem Instrument in der jüngsten Fassung weniger um ein offenes Beteiligungsangebot, denn um eine bürgernahe Form von Expertenbeteiligung.

Eines ist für alle konsultativen Verfahren dabei gleichermaßen wichtig: Sollen Bürger ihre Expertise zur Verfügung stellen, müssen sie auch tatsächlich auf Gehör treffen und die Relevanz ihres Rats spüren. Eine aktive Einbindung und ehrliche Kommunikation sind unabdingbar, damit konsultative Verfahren nicht missbraucht werden, um eine eigentlich schon „beschlossene Sache“ zu legitimieren. Gelingt es, den richtigen Weg zwischen freier Debatte und zielorientiertem „fact checking“ einzuschlagen und außerdem den Moderationsprozess und die Ergebnisrelevanz der Bürgervorschläge offen zu kommunizieren, dann können Evidence Checks zu einem wertvollen Instrument werden.

Literaturhinweise

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Kinder reden mit! Beteiligung an Politik, Stadtplanung und Stadtgestaltung Buch

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Beim Deliberativen Mapping entwickeln Fachleute und Bürger gemeinsam in einem konsultativen Verfahren priorisierte Handlungsalternativen zur Bearbeitung eines Konfliktthemas.

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