Risikoethik

risikoethik „Das Buch wendet sich an alle, die sich mit den ethischen Kriterien einer rechtfertigbaren Risikopraxis auseinandersetzen, aber auch an alle mit einem überwiegend theoretischen Interesse an der philosophischen Klärung praktischer Fragen“ (S. 2). Mit diesen Worten fasst Julian Nida-Rümelin, Professor für Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, sein Werk „Risikoethik“ passend zusammen. Gemeinsam mit den zwei Doktoranden Benjamin Rath und Johann Schulenburg hat er ein Buch für den De Gruyter Verlag geschrieben, das unter die Themenreihe „Grundthemen Philosophie“ fällt, über das Niveau eines einfachen Übersichtswerkes jedoch hinausgeht und tiefe Einblicke in die aktuelle Debatte bietet, wie man philosophisch gesehen mit Risikosituationen umgehen sollte.

Dazu gehen die Autoren in vier Schritten vor: Im ersten Teil des Buches werden Begrifflichkeiten, wie z. B. Risikosituation oder Schaden, geklärt und Definitionen gegeben, im zweiten bestehende entscheidungstheoretische Kriterien von rationaler Risikopraxis vorgestellt, im dritten verschiedene ethische Kriterien in der Risikopraxis besprochen und im vierten und letzten Teil mögliche Kombinationen von Deontologie und Vertragstheorie vorgeschlagen.

Die Risikoethik befasst sich mit der Suche nach Kriterien, die beschreiben, wann eine Handlungsalternative mit Risiko als zulässig oder unzulässig zu bewerten ist. Um diese Kriterien zu finden, orientieren sich die Autoren zunächst an bestehenden rationalen Entscheidungstheorien, die eine entsprechende Beurteilung erlauben sollen. Dazu werden verschiedene Kriterien erläutert, darunter das Bayes´sche Kriterium, das Maximin-Kriterium, das Hurwicz-Kriterium, das Laplace-Kriterium, das Minimax-Verlust-Kriterium, Bootstrapping, das Prinzip der Vorsicht und das Zufallsprinzip. Die Beschreibung dieser Kriterien ist von vielen Formeln geprägt und für Fachfremde vielleicht überraschend mathematisch. Gemeinsam haben sie, dass sie allesamt einer utilitaristischen Tradition folgen und laut den Autoren Schwächen aufweisen.

Nach diesem langen, risikotheoretischen Teil kommen die Autoren zum zweiten Bestandteil des Titels, der Ethik. Hier wird vor allem Kritik an der herrschenden konsequentialistisch geprägten Risikopraxis geäußert, die deontologische Kriterien vernachlässigt. So lauten die drei fundamentalen Einwände gegen den Konsequentialismus, dass in dieser Theorie die Gerechtigkeit nicht für jede Person gegeben sei, da Situationen möglich seien, in denen ein Einzelner für eine große Menge Menschen leiden muss; dass individuelle Rechte missachtet würden, weil Menschen instrumentalisiert werden können; und dass die Integrität von Personen geschädigt werde, weil Bindungen und persönliche Projekte für das große Ganze aufgegeben werden müssen. Daher favorisieren die Autoren eine deontologische Perspektive in der Risikoethik. Sie fordern, dass die Beurteilung einer Handlung nicht nur über Schadensmaß und Wahrscheinlichkeitswerte erfolgen solle, sondern, dass individuelle Rechte und Verteilungsgerechtigkeit Beachtung finden.

Da in der ökonomischen Praxis konsequentialistisches Gedankengut vorherrschend sei und immer zwischen Nutzen und Kosten abgewägt werden müsse, sei die Gesetzgebung im Zwiespalt zwischen ökonomischen Kalkül und deontologischem Grundrecht. Das sei z. B. daran zu sehen, dass man sich selber zwar einem erhöhten Gesundheitsrisiko durch die Einnahme von Drogen aussetzen dürfe, aber nicht durch das Autofahren ohne Sicherheitsgurt, denn das ist strafbar. Das mache die Risikopraxis inkohärent.

Wie das funktionieren kann, wird im vierten Teil des Buches geschildert. Angelehnt an Thomas Scanlons Theorie entwickeln die Autoren vier Eigenschaften für eine kontraktualistisch begründete Risikopraxis. Sie ist (a) nicht aggregativ (d. h. die Handlung muss gegenüber jeder einzelnen Person zu rechtfertigen sein, nicht nur vor bestimmten Personengruppen), (b) nicht (individuell) wohlfahrtsorientiert (das individuelle Wohlergehen ist weder notwendige, noch hinreichende Bedingung allgemein zustimmungsfähiger Prinzipien der Risikopraxis). Außerdem sind (c) Wahrscheinlichkeiten nicht relevant für die Frage, ob risikobehaftete Handlungen gerechtfertigt werden können und (d) im Einzelfall konsequentialistische Abwägungen möglich, wenn sie erforderlich sind. Das ist dann der Fall, wenn sich die Handlungsalternativen nur in Hinblick auf das Ausmaß ihrer Konsequenzen unterscheiden, solche Situationen sind jedoch sehr selten.

Fazit

Auch wenn dieses Buch zur Reihe „Grundthemen Philosophie“ gehört, ist es eher an ein akademisches Publikum gerichtet, da es ein komplexes Thema behandelt und dabei einiges an Vorwissen verlangt. Obwohl der Teil über die Klärung der Begrifflichkeiten etwa 30 % des Buches einnimmt, wird man sich bei der Lektüre schwer tun, wenn man mit Begriffen wie utilitaristisches Kalkül, prima facie Pflichten und supererogatorischer Imperativ nicht vertraut ist.

Es ist allerdings gut geeignet für Philosophen mit Vorwissen oder Interessierte, die einen Überblick über den Diskurs der Risikoethik suchen. Sie finden ein stellenweise in die Tiefe gehendes Buch vor, das viele verschiedene Positionen behandelt und einen guten Einblick in die weiterführende Literatur bietet.

Interessant ist schließlich das Nachwort von Julian Nida-Rümelin, das das Beispiel Fukushima behandelt und seine Position zur Risikoethik in solch konkreten Fällen darlegt.

Buchinformation

Autoren: Julian Nida-Rümelin, Benjamin Rath, Johann Schulenburg
Titel: Risikoethik
Verlag: De Gruyter
Erscheinungsjahr: 2012
ISBN: 978-3-11-021997.5

Eine Rezension von Maike Effing.

Literaturhinweise

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Frauen im Feld kommunaler Politik. Eine qualitative Studie zu Beteiligungsbarrieren bei Online-Bürgerbeteiligung Buch

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Chance statt Show – Bürgerbeteiligung mit Virtual Reality & Co. Akzeptanz und Wirkung der Visualisierung von Bauvorhaben Buch

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Kasachstans autoritäre Partizipationspolitik Forschungsbericht

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Dörte Bieler, Dr. Laura Block, Annkristin Eicke, Luise Essen

Partizipation ermöglichen, Demokratie gestalten, Familien stärken Forschungsbericht

Bundesforum Familie 2019.

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