Partizipation über Bürgerräte

160 zufällig ausgewählte Menschen diskutieren gegenwärtig online Deutschlands außenpolitische Rolle in der Welt. Doch nicht nur bei uns findet die Idee der Bürgerräte Anklang.

Foto: Nicolas Raymond via flickr, Lizenz: CC BY 2.0.

Wachsender Populismus, Anzeichen von Politikverdrossenheit oder die Herausbildung neuer Autokratien wie bspw. in Ungarn stellen Krisensymptome der Demokratie dar. Mit neuen Formen der politischen Teilhabe wird vielerorts versucht, diesen Herausforderungen entgegenzutreten. Eine interessante Variante sind vor diesem Hintergrund Bürgerräte als Ergänzung der parlamentarischen Demokratie. Bei diesem Beteiligungsverfahren kommen zufällig ausgewählte Personen zusammen und erarbeiten – oft gestützt von wissenschaftlicher Expertise – Empfehlungen. Diese werden anschließend den jeweiligen Entscheidungsträger*innen überreicht. Auf diese Weise fließen heterogene Perspektiven der Bevölkerung in den politischen Entscheidungsfindungsprozess ein und die Entscheidungsqualität kann sich erhöhen.

Bürgerräte in Europa

Ein europäischer Blick zeigt die thematische Vielfältigkeit, zu denen Bürgerräte gebildet werden können: Bereits 2012 fand in Irland die erste Citizens‘ Assembly statt. Das Land gilt gemeinhin als katholisch-konservativ. Umso spannender ist, dass infolge des dortigen Bürgerrates die ‚Ehe für alle‘ auf den Weg gebracht wurde und das Abtreibungsgesetz novelliert wurde. In Frankreich standen in der Convention Citoyenne pour le climat dagegen sozial-ökologische Transformationsprozesse im Vordergrund: Zwischen Oktober 2019 und Juni 2020 konnten Bürger*innen in Versammlungen Vorschläge vorbereiten, die im Anschluss der Politik und der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Die Bürger*innen empfahlen u.a. die Reduktion von Treibhausgasen im maritimen Transport sowie eine Intensivierung der Kreislaufwirtschaft. Auch in der deutschsprachigen Gemeinschaft in Ostbelgien wird ein Bürgerrat zukünftig politisch mitgestalten. Besonders ist, dass er institutionalisiert und auf Dauer angelegt ist. Im Gegensatz zu anderen Beispielen ist seine Arbeit zudem nicht themengebunden. Stattdessen wählen seine Mitglieder selbstständig Fragestellungen und Politikinhalte aus, zu denen sie Empfehlungen erarbeiten, mit denen sich anschließend die Politik befasst.  

Und bei uns?

In Deutschland haben Bürgerräte jüngst ebenfalls vermehrt Beachtung gefunden. 2019 fand das erste Verfahren auf Bundesebene statt. 160 per Losverfahren ausgewählte Bürger*innen diskutierten in mehreren Treffen über die Zukunft der Demokratie. Sie wurden begleitet von Wissenschaftler*innen, Expert*innen und Politiker*innen und übergaben ihre Empfehlungen im Herbst 2019 an Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Ein Resultat des ersten Bürgerrates war die Forderung nach weiteren Bürgerräten. 

Seit Januar 2021 findet nun der zweite Bürgerrat auf nationaler Ebene unter der Schirmherrschaft von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) mit dem Thema “Deutschlands Rolle in der Welt” statt. Pandemie-bedingt werden die erneut 160 Teilnehmenden in unterschiedlichen Formaten dieses Mal vor allem digital zusammenarbeiten. Ziel des Beteiligungsverfahrens ist es, eine Bestandsaufnahme der deutschen Außenpolitik vorzunehmen, Zukunftsbilder zu entwickeln und daraus Empfehlungen abzuleiten. Diese sollen am 19. März 2021 dem Bundestag als Vorschlag vorgelegt werden.

Einschätzungen und Erwartungen an Bürgerräte

Seitens der Politik wird das Projekt mit Interesse verfolgt. Im Dezember 2020 veröffentlichte die SPD-Bundestagsfraktion hierzu ein Positionspapier, in dem die Erprobung neuer Beteiligungsformate begrüßt wird. Als sozialdemokratisches Kernanliegen wird dabei die Repräsentation von bisher unterrepräsentierten Gruppen in Beteiligungsprozessen definiert. Diese stellt eine Herausforderung dar, der auch mittels aleatorischer Auswahlverfahren nicht ohne Weiteres begegnet werden kann.

Mit Blick auf den eingangs thematisierten Bürgerrat in Frankreich hebt Grünen-Politikerin Renate Künast (MdB) die Beteiligung der Gesellschaft an der Umsetzung der Pariser Klimaziele hervor, betont jedoch auch, dass die Bürgerräte keine dekorativen Zwecke erfüllen dürften. Mahnende Worte kommen auch von Heinrich Strößenreuther, Gründer der Initiative GermanZero, der vor der Unverbindlichkeit dieser Formate warnt. Er schreibt auf Twitter: „Die Achillessehne von Bürgerräten entsteht nach der Arbeit, wenn die Suggestion von Macht auf die tatsächliche Macht trifft.“ 

Suche nach neuen Wegen

Egal ob bei uns oder anderswo: Bürgerräte sind ein Versuch, neue Formen der Deliberation zu ermöglichen und die repräsentative Demokratie partizipativer zu gestalten. Vor diesem Hintergrund ist es methodisch zu begrüßen, dass das Experiment des Bürgerrates in Deutschland fortgesetzt wird. Es werden so weitere Erfahrungen gesammelt, wie auf Bundesebene deliberative Beteiligungsstrukturen politische Entscheidungsprozesse in einem repräsentativen System ergänzen und stärken können. Inhaltlich drängt sich jedoch die Frage auf, ob ein eher abstraktes Thema dazu optimal geeignet ist. Andreas Paust schreibt in einem lesenswerten Beitrag dazu: „Ist Deutschlands Rolle in der Welt überhaupt ein Thema, das die Menschen in diesen Zeiten von Corona und Klimawandel bewegt? Auch wenn man nicht bei der Debatte im Ältestenrat dabei war, kann man vermuten, dass das gewählte Thema das Einzige war, auf das sich die Fraktionen einigen konnten … Ist sich der Auftraggeber Bundestag klar, was er mit dem Bürgergutachten erreichen will?”. Antworten auf diese Fragen wird es wohl erst mit der Übergabe der Empfehlungen im März geben. Man darf gespannt sein.

Literaturhinweise

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Theo Schiller; Volker Mittendorf (Hrsg.)

Direkte Demokratie: Forschung und Perspektiven Sammelband

VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2003, ISBN: 978-3531138527.

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What can democratic participation mean today? Artikel

In: Political Theory, Bd. 30, Nr. 5, S. 677-701, 2002.

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Westdeutscher Verlag, Opladen, 2002.

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Deliberative Democracy and Beyond: Liberals, Critics, Contestations Buch

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Abstract | Links | BibTeX

Peter Henning Feindt

Neue Formen politischer Beteiligung Buchabschnitt

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Partizipation als Qualitätsmerkmal in der Heimerziehung: eine Diskussionsgrundlage Buch

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Peter Feindt; Wolfgang Gessenharter; Markus Birzer; Helmut Fröchling (Hrsg.)

Rationalität durch Partizipation? Das mehrstufige dialogische Verfahren als Antwort auf gesellschaftliche Differenzierung. In: Konfliktregelung in der offenen Bürgergesellschaft Zeitschrift

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Simon Joss; John Durant

Public Participation in Science. The Role of Consensus Conference in Europe Buch

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Benjamin Barber

Starke Demokratie: Über die Teilhabe am Politischen Buch

Rotbuch Verlag, Berlin, 1994, ISBN: 978-3880228047.

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