„Mehr Bock auf Politik“

Ein Interview mit Gabriela Molina von beramí e. V.

Gabriela Molina spricht im Interview mit bipar über die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund. Sie geht auf Probleme der Selbstselektivität ein und schildert eigene Erfahrungen hinsichtlich gelingenden Empowerments.

Foto: Team WelcomeCamp via flickr.com , Lizenz: CC BY-NC 2.0

beramí e. V. fördert die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund. Dies geschieht unter anderem im Rahmen von „Mehr Bock auf Politik – Ein Projekt zur politischen Partizipation für junge Frauen mit Migrationsgeschichte“. Worum geht es dabei?

Uns geht es darum, Frauen mit Migrationshintergrund politische Teilhabe- und Gestaltungsmöglichkeiten in ihrem Lebensumfeld aufzuzeigen. Dem Projekt liegt der Gedanke zugrunde, dass Integration von Zuwanderinnen nur dann gelingt, wenn sie sich als Teil der Gesellschaft sehen und Mitwirkungs- und Mitspracherechte für sich entdecken und nutzen können.

„Mehr Bock auf Politik“ ist ein Mentoringprojekt. In 12-16 Tandems wird Migrantinnen und Migranten (Mentees) – 2018 ausschließlich Migrantinnen – für 10 Monate jeweils ein(e) bereits (gesellschafts-)politisch aktive(r) Mentor(in) zur Seite gestellt. Diese geben Einblick in ihre Aktivitäten mittels gemeinsamer Besuche politischer Veranstaltungen wie bspw. Ortsbeiratssitzungen, Partei- und Fraktionssitzungen oder Parteitagen und unterstützen die Mentees dabei, Ideen für ein eigenes soziales oder politisches Engagement zu entwickeln und durchzuführen.

Darüber hinaus erarbeiten sich die Mentees zusammen mit Fachreferentinnen und -referenten in ganztägigen Seminaren wichtige Grundlagen der politischen Bildung. Themen sind z. B. das politische System in Deutschland, die Parteienlandschaft, die Zivilgesellschaft und die Rolle der Medien. Aber auch Trainings zu Selbstpräsentation, Kommunikation und politischer Debatte, Projektmanagement, Anti-Diskriminierungsstrategien bieten wir im Projektverlauf für die Mentees an. In regelmäßigen abendlichen Gruppentreffen werden Inputs zu Möglichkeiten zur Gestaltung von Politik im Rahmen von Institutionen wie Gewerkschaften, NGOs oder Initiativen gegeben. Sowohl die Seminare als auch die regelmäßigen Treffen finden je Gruppe monatlich statt. Darüber hinaus werden Parlamente der verschiedenen Ebenen besucht: Bundestag, Landtag und Stadtverordnetenversammlungen.

Eigene Engagementprojekte der Mentees werden mit Unterstützung der Mentoren im Lauf der zehnmonatigen gemeinsamen Arbeit konzipiert, geplant und durchgeführt. So wurde z. B. eine Veranstaltung organisiert, um das sozialpolitische Engagement von Frauen mit Migrationshintergrund sichtbar zu machen. Viele andere Veranstaltungen und Aktionen zu Themen wie Ausbeutungsverhältnisse von Au-pairs und Möglichkeiten der Unterstützung, Diskriminierung von Migrantinnen und Migranten an der Universität, Gender und sexuelle Orientierung, Gender Pay Gap oder die Begegnung von Vorurteilen wurden mit großem Engagement der Mentees durchgeführt.

Im Laufe der letzten vier Jahre, in denen das Projekt erfolgreich durchgeführt wurde, sind durch die beteiligten Mentees zwei Vereine gegründet worden:

Colombia viva – eine Organisation, die kolumbianische Migranten in Frankfurt unterstützt und informiert.

OLAS – eine Organisation zur Unterstützung und Bildung von Lateinamerikanerinnen in Frankfurt.

In vier Jahren nahmen 60 Menschen mit Migrationshintergrund aus den unterschiedlichsten Herkunftsländern teil. Z. B. hatten wir Mentees aus Albanien, Argentinien, Bolivien, Ecuador, Ghana, Italien, Kamerun, Kolumbien, Indonesien, Kasachstan, Kirgisistan, Vietnam, Türkei, Russland, Spanien, Ukraine, Georgien, Peru, Mexiko, China, Afghanistan. Die Mentorinnen und Mentoren kommen aus der Kommunal- und Landespolitik sowie aus Bereichen und Institutionen des gesellschaftspolitischen Engagements und der Entwicklungspolitik. Fast alle Mentorinnen und Mentoren sind zum wiederholten Mal in dieser Funktion im Projekt engagiert. 70 % der Mentees engagieren sich heute entweder in einer Partei, in Vereinen bzw. Initiativen oder haben eigene Aktivitäten entwickelt wie z. B. ein Frühstücksangebot für Obdachlose in Frankfurt, ehrenamtliche Übersetzungstätigkeit für Flüchtlinge oder als Mentoren und Mentorinnen in Bildungsprojekten für benachteiligte Kinder.

Es steht der Vorwurf im Raum, dass selbstselektive Beteiligungsverfahren häufig nur einen kleinen Kreis „üblicher Verdächtiger“ ansprechen würden. Wie sehen Sie das?

Es ist in der Tat so, dass Menschen, die sich bei beramí freiwillig engagieren (in unterschiedlichen Mentoringprojekten oder z. B. als Sprachpaten) bereits einen Zugang zu und Interesse an den Themen Migration, Gendergerechtigkeit, Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsgruppen etc. haben. Sie wollen in der Regel einen Beitrag leisten zu einer „gerechteren, offenen Gesellschaft“ und verfügen überwiegend über einen höheren Bildungsgrad.

Allerdings haben wir auch in der Vergangenheit immer wieder erlebt, dass sich z. B. Mentees aus Partizipationsprojekten in späteren Mentoringprojekten von beramí als Mentorinnen engagierten. Hier finden also Entwicklungs- und Empowermentprozesse statt.

Darüber hinaus ist es uns natürlich wichtig, bei der Auswahl der Mentoren und Mentorinnen im oben beschriebenen Projekt „Mehr Bock auf Politik“ auf Personen mit Erfahrung im Bereich Migration und gesellschaftlicher/politischer Partizipation und mit relevanten Netzwerken zurückgreifen zu können.

Der Schwerpunkt der Arbeit von beramí e. V. liegt im Bereich der beruflichen Integration. In der Diskussion um Arbeit 4.0 spielen Partizipationsmöglichkeiten für Mitarbeiter eine wichtige Rolle. Welchen Weg geht beramí e. V. hier?

beramí e. V. widmet sich seit einiger Zeit dem Thema Digitalisierungsprozesse, sowohl was unsere Bildungsangebote betrifft (bspw. Nutzung von Lernplattformen, Blended Learning, Webinare etc.) als auch beim Thema digitalisiertes Wissensmanagement im eigenen Unternehmen. Seit August dieses Jahres nehmen wir eine Prozessberatung in Anspruch, um uns hier gut aufstellen zu können.

An diesem Prozess sind Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus allen Bereichen von beramí beteiligt. Es gilt, interne und externe Kommunikationsprozesse zu optimieren und generiertes Wissen allen direkt zugänglich zu machen.

Empowerment und aufsuchende Beteiligung sind Begriffe, die häufig im Zusammenhang mit einer angestrebten Verbreiterung der Beteiligungsbasis fallen. Welche Herausforderungen und Chancen sehen Sie dabei?

Nur durch Empowerment kann das Ziel unseres Projektes erreicht werden. Starke und informierte Migrantinnen und Migranten können bewusst teilhaben. Ich beschreibe im Folgenden, wie wir praktisch vorgegangen sind, um Menschen mit Migrationshintergrund (hauptsächlich ausländische Studierende) zu empowern.

Unsere erste Aufgabe war, den teilnehmenden Mentees an unserem Projekt „Mehr Bock auf Politik – Mehr Mut zum Gestalten“ ein Verständnis dafür zu ermöglichen, dass sie auch ein Teil dieser Gesellschaft sind, sie dementsprechend auch Verantwortung haben und dass sie genauso wie jeder andere Bürger und jede andere Bürgerin teilhaben dürfen, müssen und können. Unserer Erfahrung nach verstehen sich viele Migrantinnen nicht unbedingt als Teil der „deutschen Gesellschaft“. Das heißt, die Gesellschaft sind die anderen (die Mehrheit, die für sie entscheidet und Probleme regelt). Deshalb fühlen sie sich für gesellschaftliche Veränderungen oft nicht verantwortlich oder wissen nicht, ob und wie sie an Veränderungsprozessen teilhaben können. Oft fehlt auch das Wissen über Parteien, NGOs oder andere Organisationen, in denen sie sich engagieren könnten.

Viele Migrantinnen und Migranten wissen oft nicht, dass sie vieles zu bieten haben bzw. dass ihre Kompetenzen und Fähigkeiten gebraucht werden, insbesondere im Bereich des sozialen Engagements.

Auch haben wir festgestellt, dass die Mehrheit der Migrantinnen und Migranten in Ihren Herkunftsländern spezifische gesellschaftliche Teilhabeerfahrungen gemacht haben, sogar in wenig demokratischen Ländern. Das heißt, sie haben Erfahrungen in politischem oder zivilgesellschaftlichem Engagement. Aber sie wissen oft nicht, wie sie diese in Deutschland einbringen können. Der Bedarf sich hier zu vernetzen, Lust und Neugierde aktiv zu werden, sind vorhanden. Migrantinnen und Migranten brauchen aber Informationen, wie die Zugangswege sind und ein Bewusstsein dafür, dass sie etwas bewegen können und ein verantwortlicher Teil der Gesellschaft sind.

In diesem Kontext haben wir durch Mentoring und Seminare der politischen Bildung die deutsche Demokratie, die Macht der Zivilgesellschaft und ihre Organisationen sowie aktuelle soziale und politische Herausforderungen behandelt. Die Teilnehmenden haben erfahren, dass sie in unserer Demokratie genauso wie andere Menschen (deutsch oder nicht deutsch) teilhaben dürfen und müssen und wie sie ihre Teilnahme aktiv gestalten können. Auch die persönliche Begleitung seitens der Projektleitung trug dazu bei, die eigenen Themen und Beitragsmöglichkeiten zu erkennen. Durch Trainings wurden persönliche Ressourcen und Kompetenzen wie z. B. Kommunikation und Rhetorik, Selbstdarstellung, Projektplanung und -umsetzung erweitert und gefestigt.

Durch die Entwicklung und Durchführung eigener Projektideen im zivilgesellschaftlichen Bereich haben sie das Gelernte angewendet und die Erfahrung gemacht, dass sie in ihren Interessenbereichen tatsächlich aktiv etwas bewirken können.

Am Ende des Projektes waren die Teilnehmenden gut informiert und vernetzt. Sie kennen Ihre Rechte, Kompetenzen und sind sich ihrer Macht als Teil der Zivilgesellschaft bewusst geworden.

Zur Person

Gabriela Molina ist Politologin. Als Projektleitung des Mentoringprojekts „mehr Bock auf Politik – mehr Mut zum gestalten“ setzt sie sich für politische Teilhabe und soziales Engagement von Menschen mit Migrationshintergrund in Frankfurt am Main ein. Sie hat zur Gründung eines Dachverband von Organisationen von MigrantInnen, die in Frankfurt tätig sind, beigetragen und arbeitet an der Gründung einer Akademie für die politische Bildung von MigrantInnen (AkaPolis).

Literaturhinweise

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