Gemeinwohl durch Bürgerhaushalte

Carolin Hagelskamp ist eine international anerkannte Expertin für participatory budgeting und hat dazu viele Jahre u.a. in den USA geforscht. Im Interview berichtet sie über den internationalen Stand von Forschung und Praxis.

Frau Prof. Hagelskamp, Sie haben vor allem in Nordamerika zu partizipativer Budgetplanung geforscht. Was ist darunter zu verstehen und wie unterscheiden Sie Bürgerhaushalte von -budgets?

Participatory budgeting (PB), so wie es in den USA und Kanada hauptsächlich durchgeführt wird, bedeutet, dass Bürger*innen über einen bestimmten Anteil des öffentlichen Haushalts entscheiden. In New York, zum Beispiel, findet PB auf Bezirksebene statt. Die gewählten Vertreter*innen stellen jährlich mindestens 1 Million Dollar für PB zur Verfügung. Rechtlich liegt die finale Entscheidung über diese Ausgaben immer noch bei den gewählten Vertreter*innen, aber sie verpflichten sich vor dem Beginn des Prozesses, die PB Wahlergebnisse anzuerkennen.

Wichtig ist hier, dass PB mehrere Phasen durchläuft. Es wird ein Steuerungskomitee gegründet; es werden über verschiedene Treffen und Kanäle Ideen gesammelt; kleine Gruppen von Freiwilligen kommen zusammen, um die Ideen gemeinsam mit der Verwaltung in solide Projekte auszuarbeiten; dann gibt es eine Phase in der für Projekte geworben werden kann; schließlich findet eine öffentliche Wahl statt (diese geht oft über mehrere Tage und es werden Pop-Up Wahlstationen in den Bezirken aufgebaut). Das Monitoring der Implementierung und die Evaluation der Prozesse finden auch durch die Steuerungskomitees statt.

Wahlberechtigt sind in diesen Prozessen fast immer auch Menschen, die keine Staatsbürgerschaft haben (auch diejenigen, die ohne offizielle Aufenthaltsgenehmigung im Land sind) und Teenager.

Tragen Bürgerhaushalte oder -budgets aus Ihrer Sicht dazu bei, Menschen nachhaltig partizipativer und politischer zu machen?

Es gibt Studien (aus den USA und Tschechien), die PB mit einer höheren Beteiligung an den folgenden regulären Wahlen in Verbindung bringen und dabei auch quasi-experimentelle Forschungsdesigns nutzen. In mehreren Studien zu PB in Süd-Amerika geben Teilnehmer*innen an, viel aus den Prozessen gelernt und sich im Nachhinein mehr politisch und auch zivilgesellschaftlich engagiert zu haben.

Es ist aber nicht so, dass Menschen sich primär an PB beteiligen, weil Sie Lust auf Demokratieschule haben und sich dadurch erhoffen, nachhaltig partizipativer und politischer zu werden. Letzteres ist das, was sich vor allem Politiker*innen und Politikwissenschaftler*innen wünschen.

Bürger*innen erwarten von ihrer Teilnahme, dass sie nachhaltig an Veränderungen mitwirken und der Prozess zu Verbesserungen in der Kommune führt. Das hat zum Beispiel eine Studie von HWR Studentinnen zum Bürgerbudget in Glienicke Nordbahn gezeigt. Am zweitwichtigsten war es den Teilnehmer*innen, dass das Bürgerbudget in Glienicke/Nordbahn das Gemeinschaftsgefühl in der Kommune stärkt.

Wenn wir über die Wirkung und den Erfolg von Bürgerbudgets nachdenken, sollten wir auch im Auge behalten, was für die Teilnehmer*innen den Erfolg eines solchen Prozesses ausmacht.

Ist partizipative Budgetplanung ein probates Mittel, um eine höhere Gemeinwohlorientierung bei der Verwendung kommunaler Finanzmittel zu erreichen?

Die Forschung sagt ja, PB kann so ein Mittel sein. Aber das passiert nicht zufällig. Wenn Gemeinwohlorientierung oder soziale Gerechtigkeit und sozialer Ausgleich explizite Ziele eines Prozesses sind, dann kann PB diese Ziele auch erreichen, denn dann wird der Prozess entsprechend geplant. Viele Studien zu PB in Brasilien zeigen, dass PB zu sozial gerechteren Ausgaben und einer Verbesserung von Infrastruktur und Lebensbedingungen führen kann. Auch Studien zu PB in New York City haben gezeigt, dass sich mit PB Prioritäten bei den Ausgaben ändern und dass (unter bestimmten Umständen) mehr Geld in ärmeren Teilen der Bezirke investiert wird.

Eine Herausforderung bei der Umsetzung deliberativer Verfahren ist es, inklusive und breite Beteiligung zu erreichen. Wie beurteilen Sie Bürgerbudgets und -haushalte im Hinblick auf die Einbindung “stiller” Gruppen?

Dafür gibt es viele Ideen, Beispiele, Leitfäden und Best-Practices. Wichtig sind die direkte Ansprache und die Ausrichtung des Prozesses auf Gruppen, die ansonsten von politischen Prozessen ausgegrenzt sind oder sich aus unterschiedlichen Gründen weniger beteiligen. Forschung hat gezeigt, dass die Mitwirkung von lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen hierbei sehr wichtig sein kann. Diese Organisationen oder Vereine sind oft schon gut in Kommunen vernetzt und genießen mehr Vertrauen. Außerdem kennen sie sich mit Ansprache aus und kennen die Bedürfnisse der Menschen, die sie vertreten. Wichtig ist dann wiederum auch, dass Politik und Verwaltung bereits ein gutes Verhältnis zu der lokalen Zivilgesellschaft haben. PB hängt auch immer von der bestehenden Beteiligungskultur ab. Gleichzeitig kann PB diese prägen.

Interessant sind auch die vielen Möglichkeiten, die Gemeinwohlorientierung aller Teilnehmer*innen im PB Prozess zu fördern. Prozesse können so konzipiert sein, dass sie Kooperationen und Allianzen anstatt Wettbewerb fördern; dass solidarische Verteilung im Zentrum steht; dass alle Teilnehmer*innen darüber nachdenken, was der Bezirk oder die Stadt braucht (und weniger, was nur die eigene Familie, Schule oder Interessensgruppe möchte). Das kann z. B. schon dadurch gefördert werden, dass Teilnehmer*innen mehrere Stimmen bei der Wahl haben (diese aber nicht nur für ein Projekt abgeben können) und dass sie zu jedem Projekt auf dem Wahlzettel ja oder nein ankreuzen müssen.

Bürgerhaushalte finden weltweit Beachtung und Anwendung. Was können Städte und Kommunen trotz unterschiedlicher kultureller und sozialer Rahmenbedingungen voneinander lernen und worin bestehen Vorteile einer Vernetzung?

PB Praktiker (aus Zivilgesellschaft, Politik und Verwaltung) und PB Forscher*innen vernetzen sich gerade weltweit über People Powered – Global Hub for Participatory Democracy. Die Hauptmotivation der Mitglieder ist es voneinander zu lernen. Man lernt viel über Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Umsetzung von PB. Man bekommt Unterstützung darin, Ideen und Erfahrungen aus anderen Ländern oder Städten im eigenen Kontext umzusetzen. Es ist spannend, sich weltweit gemeinsam für gleiche oder sehr ähnliche Ziele — dass sich Menschen mehr und besser an demokratischen Entscheidungen beteiligen können — einzusetzen. Es macht auch Spaß.

Zur Person

Carolin Hagelskamp, Professorin für Sozialwissenschaften an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) Berlin, war von 2011-2016 Forschungsdirektorin bei Public Agenda (New York City), einer gemeinnützigen Organisation für Forschung und Beratung zu Bürgerbeteiligung in den USA. Sie ist Co-Vorsitzende des Forschungsvorstands von People Powered – Global Hub for Participatory Democracy.

Literaturhinweise

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Sherry Arnstein

A Ladder of Citizen Partizipation Artikel

In: Journal of the American Planning Association, Bd. 35, Nr. 4, S. 216-224, 1969.

Abstract | BibTeX

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