Eine internationale Erfolgsstory

Ein Interview mit Dr. Stefanie Hanke zu Bürgerhaushalten weltweit

Dr. Stefanie Hanke spricht im Interview mit bipar über die unterschiedlichen Formate der Bürgerhaushalte in Lateinamerika, Afrika und Asien.

Foto: nosheep via pixabay.com

Bürgerhaushalte finden nicht nur in Deutschland in unterschiedlicher Ausgestaltung häufig Verwendung. Was macht dieses Instrument aus Ihrer Sicht so interessant?

Bürgerhaushalte bieten der Bevölkerung die Möglichkeit, über die Verwendung der von Ihnen gezahlten Steuergelder auf kommunaler Ebene mitzuentscheiden. Das ist für viele Menschen, für die eine rein auf Wahlen fokussierte Demokratie eine prozedural erstarrte Demokratie ist, ein Instrument lebendiger und beteiligungsorientierter Demokratie. Auch haben viele aus dem Ruder gelaufene Großprojekte der vergangenen Jahre ein legitimatorisches Defizit repräsentativer Entscheidungsprozesse aufgezeigt. Der Bürgerhaushalt ist eines der erfolgreichsten Beteiligungsinstrumente der letzten Jahrzehnte. Kein Verfahren hat sich weltweit schneller verbreitet als die Beteiligung der Bevölkerung an der Planung kommunaler Haushalte. Aktuell beteiligen mindestens 102 deutsche Kommunen ihre Bevölkerung aktiv an der Haushaltsplanung. Die Zahl der aktiven Städte ist höher als die Zahl der Fälle oder Verfahren, da einige Kommunen Doppelhaushalte für zwei Jahre aufstellen, entsprechend findet der Bürgerhaushalt zweijährlich statt – wie in Trier. Auch die Zahl der Beteiligten ist mitunter beeindruckend. Bei Großstädten über 500.000 hat Stuttgart mit 9 % der Bevölkerung auch im internationalen Vergleich großer Städte die meisten Beteiligten.

Bürgerhaushalte stammen ursprünglich aus Südamerika. Längst findet man sie jedoch in vielen Ländern weltweit. Welche regionalen Besonderheiten fallen aus Ihrer Sicht im länderübergreifenden Vergleich auf?

Derzeit befinden sich rund ein Drittel aller Bürgerhaushalte in Lateinamerika. Viele Städte verknüpfen das Verfahren mit partizipativer Stadtentwicklungsplanung (z. B. Villa El Salvador in Peru, Cuenca in Ecuador oder Medellín in Kolumbien). Indigene Gemeinden in den Andenländern kombinieren es häufig mit Strukturen des Community Development, wo lokale Gruppen verstärkt in die Umsetzung der Projekte eingebunden sind. Zudem existieren Ansätze, die Bürgerhaushalte mit Gender Mainstreaming verbinden und entsprechende Trainings durchführen (z. B. Rosario in Argentinien). Auch neue Technologien gewinnen für die Online-Partizipation in Lateinamerika immer mehr an Bedeutung, wie z. B. in Belo Horizonte, wo Bürgerinnen alle zwei Jahre per Internet über bestimmte größere Investitionen im Bereich Wohnungspolitik abstimmen können.

Auch wenn Bürgerhaushalte in Afrika erst vor kurzem Einzug hielten, nahm die Anzahl der Verfahren in den letzten Jahren schnell zu. Im Jahr 2012 ließen sich zwischen 77 und 103 Bürgerhaushalte identifizieren, wovon sich die meisten im Senegal, in Kamerun, in der Demokratischen Republik Kongo und auf Madagaskar befinden. Neben dem afrikanischen Zweig des Weltverbands der Städte und Gemeinden UCLG-Afrika spielten v.a. internationale Organisationen und Akteure der Entwicklungszusammenarbeit bei der Einführung des Verfahrens eine große Rolle. Im englischsprachigen Afrika, wo Bürgerhaushalte meist der angelsächsischen Tradition des Community Development folgen, führte die Kombination von externen Einflüssen mit traditionellen Beteiligungsverfahren häufig zu Hybridisierungen. Klientelistische Strukturen oder politische Veränderungen erschweren allerdings den Fortgang einiger Projekte. Grundsätzlich zeigt sich, dass Bürgerhaushalte in Afrika stark von internationalen Geldgebern abhängig sind und ein Vergleich mit den Verfahren in Lateinamerika oder Europa schwierig ist.

China nähert sich dem Thema an und rückt damit in den Fokus der internationalen Vernetzung. Auch wenn es schwierig ist, autoritäre Strukturen mit Bürgerhaushalten zu verknüpfen, können interessante Ansätze entstehen, so wie es die umgesetzten Deliberationsforen (deliberative polling) zeigen. Im Gegensatz dazu entwickelten sich in Südkorea anspruchsvolle Verfahren (z. B. in Gwangju und Ulsan), die sich an den Grundsätzen von Porto Alegre orientieren. Mit 75 Bürgerhaushalten im Jahr 2008 sind in Südkorea die meisten Beispiele in Asien zu finden. Zudem werden Bürgerschulungen und Seminare zu Haushaltsangelegenheiten durchgeführt. In Japan sieht die Situation ähnlich aus; ein interessantes Beispiel kommt dabei aus der Stadt Ichikawa: Ein Prozent der kommunalen Einnahmen stehen für gemeinnützige Projekte zur Verfügung und die Steuerzahlerinnen entscheiden über die Verwendung der Mittel. (9. Statusbericht Bürgerhaushalt auf www.bürgerhaushalt.org)

Als Projektleiterin bei Engagement Global setzen Sie sich für die Stärkung der Demokratie und insbesondere für bessere Teilhabemöglichkeiten von Frauen und Jugendlichen in Ländern des Globalen Südens ein. Können Sie anhand eines Fallbeispiels auf die Herausforderungen bei der Umsetzung deliberativer Prozesse in diesem Kontext eingehen?

In Marokko setzen wir uns in einem Kooperationsprojekt mit der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Stadt Leipzig für die Einrichtung von Bürgerbüros ein. Diese sollen Anlaufstelle für Bürgerinnen und Bürger sein und vor allem Frauen und Jugendliche stärker einbinden. Ein Bürgerbüro zu eröffnen und den Willen zu mehr Partizipation zu verkünden ist eine Sache, in der Ausgestaltung der täglichen Arbeit liegt jedoch die wahre Herausforderung. Welche Kompetenzen werden von der Zentralregierung in die Kommunen verlagert, was dürfen diese entscheiden und welche finanziellen Mittel bekommen sie, wie werden die Mitarbeitenden geschult, damit sie eine echte Anlaufstelle werden können? Dies alles sind offene Fragen, die bis jetzt auch nicht immer einheitlich und klar beantwortet werden. Hier sind wir erst am Anfang eines gemeinsamen Weges. 

Zur Person

Dr. Stefanie Hanke war von 2017 bis 2019 zuständig für das Kooperationsprojekt Netzwerk Bürgerhaushalt bei der Servicestelle Kommunen in der Einen Welt von Engagement Global. Das Kooperationsprojekt war seit 2005 gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung betreut worden, die Unterstützung ist Ende März 2019 ausgelaufen. 

Literaturhinweise

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Christian Huesmann, Anna Renkamp, Wolfgang Petzold

Europa ganz nah: Lokale, regionale und transnationale Bürgerdialoge zur Zukunft der Europäischen Union Forschungsbericht

Bertelsmann Stiftung Gütersloh, 2022.

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Arne Spieker

Chance statt Show – Bürgerbeteiligung mit Virtual Reality & Co. Akzeptanz und Wirkung der Visualisierung von Bauvorhaben Buch

2021, ISBN: 978-3-658-33081-1.

Abstract | Links | BibTeX

Jan Abt, Bianka Filehr, Ingrid Hermannsdörfer, Cathleen Kappes, Marie von Seeler, Franziska Seyboth-Teßmer

Kinder und Jugendliche im Quartier - Handbuch und Beteiligungsmethoden zu Aspekten der urbanen Sicherheit Forschungsbericht

2021, ISBN: 978-3-88118-679-7.

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OECD (Hrsg.)

Innovative Citizen Participation and New Democratic Institutions - Catching the Deliberative Wave Buch

2020.

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Daria Ankudinova, Dr. Delal Atmaca, Katharina Sawatzki, Nadiye Ünsal, Alexandra Vogel, Tijana Vukmirovic

Politische Teilhabe von Migrantinnen*selbstorganisationen mit Fokus auf ihre Lobby- und Gremienarbeit Forschungsbericht

DaMigra e.V. – Dachverband der Migrantinnenorganisationen 2020, ISBN: 978-3-9819672-2-7.

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Stiftung Mitarbeit (Hrsg.)

Engagiert für Integration - Demokratische Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft Buch

2019, ISBN: 978-3-941143-38-8.

Links | BibTeX

Johannes Drerup, Gottfried Schweiger (Hrsg.)

Politische Online- und Offline-Partizipation junger Menschen Sammelband

J.B. Metzler, Stuttgart, 2019, ISBN: 978-3-476-04744-1.

Links | BibTeX

Bertelsmann Stiftung (Hrsg.)

Schwindendes Vertrauen in Politik und Parteien Forschungsbericht

2019.

Abstract | Links | BibTeX

Roland Roth; Udo Wenzl

Jugendlandtage in den Bundesländern – Zwischen Dialog, Beteiligung, politischer Bildung und Nachwuchsförderung Forschungsbericht

2019, ISBN: 978-3-922427-24-7.

Links | BibTeX

Sebastian Schiek

Kasachstans autoritäre Partizipationspolitik Forschungsbericht

SWP-Studie Stiftung Wissenschaft und Politik, Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Berlin, 2019, ISBN: 1611-6372.

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