Die Verfassungsschüler

Ein Interview mit der Gewinnerin des Medienpreises der Allianz Vielfältige Demokratie Nicole Rosenbach

Nicole Rosenbach spricht vor dem Hintergrund ihrer Reportage „Die Verfassungsschüler“ über die Chancen wirksamer Jugendbeteiligung und die Rolle von Journalisten in einer beteiligungsorientierten Gesellschaft.

Sie haben in Ihrer Dokumentation ein Projekt begleitet, bei dem sich junge Menschen mit den Werten des Grundgesetzes und politischer Teilhabe auf kommunaler Ebene auseinandergesetzt haben. Wieso haben Sie sich gerade für dieses Thema entschieden?

Ich hatte noch nie zuvor von einem Projekt gehört, das jungen Menschen im sozialen Brennpunkt die Werte unserer Verfassung nahebringt. Und zwar nicht gerade durch die Hintertür, sondern ganz offensiv. Als ich erfuhr, dass es dem ehemaligen Sozialarbeiter Suat Yilmaz gelungen war, eine Gruppe „Verfassungsschüler“ in einem heruntergekommenen Jugendtreff im Dortmunder Norden um sich zu scharen, war mir gleich klar: Das ist der Stoff für eine Dokumentation. Ich kannte die Strahlkraft von Suat Yilmaz von früheren Dreharbeiten zum Thema Talentförderung, und ich war mehr als gespannt, was er mit diesem Projekt erreichen würde.

Welche Chancen sehen Sie in der Beteiligung junger Menschen vor dem Hintergrund Ihrer Reportage?

Die größte Chance liegt darin, dass Menschen sich als Teil unserer Gesellschaft fühlen, in die sie Vertrauen setzen. Bildung und Beteiligung ist der beste Schutz unserer Demokratie, der Kitt für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wer dauerhaft ignoriert, ausgegrenzt oder diskriminiert wird, kann in der Folge eine Gefahr für unser friedliches Zusammenleben darstellen. Politische Beteiligung in jungen Jahren verändert alles: den Umgang mit den Nachbarn, die Wahrnehmung der eigenen Umgebung, die Berufswahl. Bei den „Verfassungsschülern“ konnte ich in dem Jahr der Dreharbeiten zusehen, wie sie sich veränderten. Auch ihr Netzwerk ist automatisch mit eingebunden worden: die Clique und die Familie. Ältere Geschwister gaben ihr Wissen an die Jüngeren weiter, so dass sich auch die Diskussionen und das Denken innerhalb einer Familie veränderten. Eine erstaunliche Wirkung.

Welche Empfehlungen würden Sie ­­– vor dem Hintergrund Ihrer gesammelten Erfahrungen – Initiatoren von Beteiligungsprozessen auf den Weg geben?

Verbindet euch mit Menschen im Viertel, die den unverstellten Zugang zu jungen Leuten haben. Da kann zum Beispiel ein ehrenamtlicher Fußballtrainer oder der Kioskbesitzer im Viertel hilfreich sein. Sie wissen auch, wo es „brennt“. Gebt jungen Menschen sinnstiftende Aufgaben, damit sie daran wachsen können und eine Zugehörigkeit erleben. Viele Heranwachsende erleben Politik als etwas Abstraktes, das nichts mit ihrer Welt zu tun hat. Die „Verfassungsschüler“ wussten überhaupt nicht, dass sie ein Mitspracherecht haben und dass sie in ihrem Viertel etwas bewegen können. Warum gibt es nicht auf kommunaler Ebene z. B. eine 15-jährige Umweltbeauftragte oder einen 17-jährigen Anti-Diskriminierungsbeauftragten?

Welche Rolle sollte Journalismus aus Ihrer Sicht in einer beteiligungsorientierten Gesellschaft spielen? 

Wir Journalisten neigen dazu, den Fokus auf negative Nachrichten zu richten. Das ist auch wichtig, wenn es dem Aufdecken von Missständen dient. Aber: Journalismus sollte immer die Vielfalt unserer Gesellschaft widerspiegeln und konstruktiv aufzeigen, welche Chancen und Möglichkeiten in ihr liegen. Die Gesellschaft lässt sich vor der eigenen Haustür verändern, das zeigt das Projekt der „Verfassungsschüler“ so beeindruckend. In solch positiven Beispielen liegt eine Kraft, die sehr ansteckend und inspirierend ist. Und wir Journalisten sollten nicht aufhören, über diese Themen zu berichten, gerade weil die Negativschlagzeilen manchmal so raumgreifend erscheinen.

Was braucht eine lebendige Demokratie aus Ihrer Sicht am dringendsten?

Die Antwort auf die Frage: Wann nehmen wir das Problem der Bildungsarmut endlich ernst?

Wir brauchen den Ausbau einer aufsuchenden Bildung, durch die Kinder aus Elternhäusern, denen es weniger gut geht, von früh an unterstützt werden. Gewinnen würden wir sehr viel.

Zur Person

Nicole Rosenbach hat in Münster Publizistik, Politik und Anglistik studiert. Als freie Fernsehautorin startete sie zunächst beim SWR in Mainz. Seit 2003 arbeitet die mehrfach ausgezeichnete Journalistin für verschiedene Redaktionen im WDR und Die Story im Ersten. Ihre Schwerpunkte sind gesellschaftspolitische Dokumentationen und investigative Reportagen zu den Themen soziale Benachteiligung, Bildung und kulturelle Vielfalt.

 

Die Reportage von Nicole Rosenbach können Sie hier anschauen.

Literaturhinweise

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