Schuld war ein Käfer. Osmoderma eremita ist der wissenschaftliche Name des kleinen Krabbeltiers, allgemein bekannt als Juchtenkäfer. Viel Aufmerksamkeit ist ihm zuteilgeworden, weil er medienwirksam dazu beigetragen hat, ein großes Infrastrukturprojekt in Deutschland zu verzögern.
Der Käfer war also Schuld. Und die Ökos. Und ein ganz großer Teil der lokalen Bevölkerung, die über Jahre hinweg mit beispielloser Renitenz gegen ein segensreiches Infrastrukturprojekt rebellierte. Solche Infrastrukturvorhaben in Deutschland dauern lange. Mit und ohne den Juchtenkäfer aus dem Projekt, das einige Jahre die halbe Republik durcheinanderwirbelte, zwischenzeitlich fast in Vergessenheit geraten und noch lange nicht realisiert ist: Stuttgart 21.
Vor rund 30 Jahren, im Jahr 1991, wurde einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, dass der Stuttgarter Hauptbahnhof unter die Erde verlegt werden sollte. Vor 10 Jahren wurde der Fertigstellungstermin 2019 kommuniziert, aktuell ist 2025 geplant. Alle Erfahrungen legen nahe, dass es am Ende gut 40 Jahre werden können.
Gründe dafür gibt es eine Menge: unrealistische Zeithorizonte, technische Herausforderungen, logistische Fehlplanungen, ökologische Komplikationen – und natürlich eine zeitweilig massive Gegnerschaft in der Bevölkerung, die am Ende sogar zu einem Regierungswechsel beitrug.
Stuttgart 21 ist deshalb ein interessantes Beispiel, weil es nicht nur ein ganz wesentlicher Katalysator für den Ausbau der Bürgerbeteiligung in Deutschland war, sondern auch bei Gegner*innen derselben gerne als Beispiel für die „Gefahr“ herangezogen wird, die von den „Wutbürgern“ ausgehe.
Was liegt also näher, als sich 10 Jahre nach der entscheidenden Volksabstimmung (die letztlich gegen den Ausstieg aus dem Großvorhaben votierte) einmal anzuschauen, was wir aus Stuttgart 21 gelernt haben – und was wir hätten lernen können.
Das Unabhängige Institut für Umweltfragen (UfU) veranstaltet dazu am 4. März eine digitale Fachtagung mit drei interessanten Referent*innen:
Ein interessantes Panel mit ausreichend Zeit zur Diskussion. Auch Sie sind herzlich eingeladen und können sich hier anmelden. Ich freue mich auf die Möglichkeit, trotz Pandemiezeiten mit Ihnen ins Gespräch zu kommen.
Ich möchte meinem Vortrag nicht vorgreifen, aber Sie gerne ein wenig für die Veranstaltung begeistern, deshalb hier ein kleiner, sehr komprimierter Vorgeschmack auf die Themen, die Ihnen geboten werden:
Was haben wir also gelernt aus dem politischen Desaster um Stuttgart 21? Welche Erfahrungen haben 10 Jahre Bürgerbeteiligung in allen Ecken Deutschlands zu allen erdenklichen Themen und in hunderten unterschiedlichen Formaten gebracht?
Keine.
Und zugleich: viele. Denn ein typisches Phänomen in der Bürgerbeteiligung ist, dass sie immer wieder von neuen Akteuren neu erfunden wird. Es gibt Methoden und Formate, die sich bewährt und an Beliebtheit gewonnen haben, doch zugleich entdeckt immer noch Woche für Woche irgendwo in Deutschland eine Kommune erstmalig die Möglichkeiten und Potentiale Breiter Beteiligung.
Immer mehr Kommunen geben sich Leitlinien oder gar Beteiligungssatzungen. Und fast immer werden sie nicht schlicht von existierenden Dokumenten kopiert, sondern vor Ort partizipativ neu verhandelt.
Und das ist gut so.
Denn wenn wir eines in der vergangenen Dekade gelernt haben, dann das: Beteiligung ist kein standardisierter Verwaltungsakt, sondern eine Kultur. Und Kulturpraktiken müssen sich entwickeln, man kann sie nicht verordnen. Kultur ist auch nichts Statisches oder Fertiges. Sie entwickelt sich stetig fort, getragen von den Menschen, die sie praktizieren.
Die hohe Diversität der Beteiligungskulturen in allen Teilen Deutschlands gehört deshalb quasi zur Genetik der Beteiligung. Jeden Tag machen irgendwo Menschen neue Erfahrungen mit Beteiligung – und die sind so unterschiedlich wie sie selbst. Kann man also gar nichts verallgemeinern?
Keinesfalls. Denn unterschiedliche Erfahrungen heißen nicht, dass alles funktioniert. Vielfalt heißt nicht Beliebigkeit. Im Gegenteil: Durch diese große Vielfalt konnten wir in den vergangenen Jahren sehr viel in sehr unterschiedlichen Konstellationen erproben. Wir wissen heute weit mehr über Beteiligungsprozesse, ihre Anforderungen, ihre Potentiale und auch ihre Risiken, als möglich gewesen wäre, wenn wir alle nach irgendeiner DIN-Norm stur dieselben Prozesse durchgezogen hätten.
Wir wissen also heute viel mehr über Beteiligung als vor 10 Jahren. Wir haben Erkenntnisse, was funktioniert, wann es funktioniert, wie es funktioniert und zum Teil auch, wie es wirkt. Uns ist jedoch auch bewusst, dass wir vieles noch nicht wissen – und das „Wissen“ in Fragen der Beteiligungskultur nicht mit naturwissenschaftlichem Wissen verwechselt werden sollte. Vor allem wissen wir, welche Lern- und Klärungsprozesse uns noch bevorstehen. Dazu gehören insbesondere:
Wir haben in den vergangenen Jahren viele Erfahrungen gemacht. Und wie immer führen Erfahrungen zu einigen Antworten – und vielen neuen Fragen. Hätte die Bürgerbeteiligung einen Facebook-Account, müsste der Eintrag im Feld „Beziehungsstatus“ lauten: Es ist kompliziert.
Es gibt also viel zu diskutieren. Deshalb freue ich mich, wenn wir uns am 4. März sehen und diese Fragen gemeinsam vertiefen können. Bis dahin: Bleiben Sie gesund!
Jörg Sommer ist Direktor der Berlin Instituts für Partizipation und Verfasser des wöchentlich erscheinenden Newsletters demokratie.plus, den Sie hier abonnieren können. Die einzelnen Ausgaben werden hier im Debattenbereich aufgenommen, um den Leser*innen eine Kommentierung und Diskussion zu ermöglichen.