Willkommen in der Gegenwart

Eine Vielzahl digitaler Plattformen versprechen neue Partizipationsmöglichkeiten. Eine von Ihnen ist das belgische Start-up citizenLab.

Foto: StartupStockPhotos via Pixabay.

„Das Internet ist für uns alle Neuland.“ Als Angela Merkel diesen Satz 2013 sagte, wurde sie dafür schon damals von digitalaffinen Journalist*innen und Twitter-User*innen belächelt. Acht Jahre später zeigt die Corona-Pandemie, dass sie damit nicht Unrecht hatte: Ganze gesellschaftliche Bereiche erkennen, dass sie auf direkte zwischenmenschliche Kontakte angewiesen sind. Pläne für eine Umstellung auf digitale Formate: Oft Fehlanzeige. Zu diesen Bereichen zählt neben der Kulturbranche und dem (Hoch-)Schulwesen auch die Bürgerbeteiligung. Doch Not macht erfinderisch: Viele Vorhabenträger*innen machen sich auf den Weg ins Neuland und stellen ihre Beteiligungsprozesse auf digitale Formate um. So ermöglichen sie es den Bürger*innen, sich trotz Kontaktbeschränkungen in Beteiligungsprozessen zu engagieren. 

Einige dieser digitalen Lösungen werden wohl nur in der aktuellen Situation Bestand haben. Bei anderen lohnt es sich, den Blick schon jetzt auf die Zeit nach der Pandemie zu richten: Was funktioniert digital, was nicht? Was ist nur Notlösung, was wegweisend? Vor diesem Hintergrund ist eine Betrachtung von citizenLab spannend; einem belgischen Start-Up, das seit 2015 kommerziell eine kostenpflichtige Online-Partizipationsplattform betreibt.

Wie funktioniert citizenLab?

Citizen Lab bietet Stadt- und Regionalverwaltungen eine Vielzahl von Möglichkeiten, den digitalen Austausch mit ihren Einwohner*innen zu gestalten. Sie können unter anderem Umfragen schalten, Workshops veranstalten oder mit Hilfe der Kartenfunktion Ideen für die Gestaltung bestimmter Plätze, Straßen oder Gebäude sammeln. Hervorzuheben ist außerdem die Einbindung einer Sprachanalyse-KI. Diese wertet Diskussionsergebnisse automatisch aus und stellt sie den Entscheidungsträger*innen in Politik und Verwaltung einfach und übersichtlich zur Verfügung.

Je nachdem, welche Funktionen der Plattform die jeweilige Stadt- oder Regionalverwaltung in Anspruch nimmt, stehen auch den Bürger*innen mehrere Optionen zur Beteiligung offen. Die wichtigste Anwendung auf Bürger*innenseite ist die Möglichkeit, Vorschläge für konkrete Projekte und Maßnahmen zu machen. Dabei gleicht der Ablauf dem in den Sozialen Medien: User*innen können Beiträge auf der Plattform hochladen und dort von anderen Teilnehmenden kommentieren und bewerten lassen. So entsteht zu jedem Vorschlag ein Stimmungsbild, das die Behörden in ihren Entscheidungsfindungsprozess aufnehmen können.

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Praxisbeispiele

Weltweit verwenden über 300 Kommunen die Plattform von citizenLab. Dabei überführen sie sehr unterschiedliche Beteiligungsformate in den digitalen Raum: Zum Beispiel wurden damit in Vancouver Vorschläge für bezahlbares Wohnen gesammelt, im Londoner Bezirk Newham Bürger*innen in die Stadtplanung einbezogen und in Peñalolén in Chile über 24.000 Bürger*innen an der Ausgestaltung des kommunalen Haushalts beteiligt.

Besonders kreativ in der Anwendung von citizenLab und in der Verknüpfung von digitalen und analogen Elementen ist das Bürgerbudget der Stadt Gent. Dort begann der Prozess mit einer auffälligen Marketingkampagne: Bunte Hochsitze aus Metall luden die Bürger*innen an markanten Orten dazu ein, die Stadt „aus einer anderen Perspektive zu betrachten“ und sich am Bürgerbudget zu beteiligen. Im Anschluss daran gingen auf der Online-Plattform der Stadt über 500 Vorschläge ein und wurden dort nach dem oben erläuterten Prinzip bewertet. Dazu kommen zwei Ergänzungen, die eine breite und heterogene Teilnehmerschaft sicherstellen sollen: In jedem Viertel diskutieren derzeit nach demographischen Merkmalen repräsentativ ausgeloste Bürgerräte und frei zugängliche „Dialogtische“ über die eingegangenen Vorschläge.

Chancen und Risiken von Online-Beteiligung

Was können Online-Plattformen wie citizenLab zu einem gelingenden Beteiligungsprozess beitragen? Es ist wichtig, zu betonen: Online-Partizipationsplattformen sind keine Zaubermittel, sondern Werkzeuge, die gut oder schlecht angewendet werden können. Wie auch bei analogen Formaten hängt die Qualität des Prozesses von vielen Faktoren ab. Dazu bieten die 10 Grundsätze guter Beteiligung der Allianz Vielfältige Demokratie eine gute Orientierungshilfe

Digitale Angebote können dabei die Schwelle zur Beteiligung für manche gesellschaftlichen Gruppen niedriger machen. Für andere Menschen ist ein reiner Online-Prozess hingegen schwieriger zugänglich, weil ihnen Digitalkompetenzen oder schlicht der Zugang zu einem leistungsstarken Internet fehlen. Digitale Beteiligung bedeutet deshalb nicht automatisch auch breite Beteiligung. Darauf verweist auch die jüngst erschienene Broschüre „Demokratie 4.0” der Allianz Vielfältige Demokratie und der Stiftung Zukunft Berlin.

Die Digitalisierung schafft jeden Tag ein Stück Neuland. In der Bürgerbeteiligung stellt sich deshalb allen Beteiligten eine Aufgabe: Sie müssen virtuelle Angebote so in ein Beteiligungssystem integrieren, dass viele Menschen ihre eigene Lebenswelt mitgestalten können. Plattformen wie citizenLab fügen dem Werkzeugkasten der Bürgerbeteiligung deshalb eine interessante Komponente hinzu.

Literaturhinweise

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Sabine Ursula Nover

Protest und Engagement: Wohin steuert unsere Protestkultur? Buch

VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2009, ISBN: 978-3531163130.

BibTeX

Peter Hocke

Expertenkommunikation im Konfliktfeld der nuklearen Entsorgung. Zum Wandel von Expertenhandeln in öffentlichkeitssoziologischer Perspektive Buchabschnitt

In: Peter Hocke; Armin Grunwald (Hrsg.): Wohin mit dem radioaktiven Abfall? Perspektiven für eine sozialwissenschaftliche Endlagerforschung, edition sigma, Berlin, 2006.

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Jörg Bogumil; Lars Holtkamp; Leo Kißler

Kooperative Demokratie: Das politische Potenzial von Bürgerengagement Buch

Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2006, ISBN: 978-3593380131.

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Anna Geis

Regieren mit Mediation: Das Beteiligungsverfahren zur zukünftigen Entwicklung des Frankfurter Flughafens Buch

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Nuclear Energy Agency

OECD Nuclear Energy Agency: Stepwise Approach to Decision Making for Longterm Radioactive Waste Management Buch

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Arbeitskreis Auswahlverfahren Endlagerstandorte (AkEnd)

Auswahlverfahren für Endlagerstandorte - Empfehlungen des AkEnd Forschungsbericht

Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) 2002.

Abstract | BibTeX

Ortwin Renn; Thomas Webler

Der kooperative Diskurs. Theoretische Grundlagen, Anforderungen, Möglichkeiten Buchabschnitt

In: Ortwin Renn; Hans Kastenholz; Patrick Schild; Urs Wilhelm (Hrsg.): Abfallpolitik im kooperativen Diskurs. Bürgerbeteiligung bei der Standortsuche für eine Deponie im Kanton Aargau, S. 3-103, vdf, Zürich, 1998.

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