Alles ‚Rosinenpickerei‘?

Neue wissenschaftliche Erkenntnisse zur Umsetzung von Bürgerbeteiligungsverfahren

Der Politologe Arndt Leininger widmet sich in seinem Gastbeitrag dem sozialwissenschaftlichen Analysegegenstand des „Cherry Picking“. Er geht der Vermutung nach, dass Verwaltungen bei Beteiligungsverfahren vor allem die Vorschläge von Bürgern berücksichtigen, die der eigenen Präferenz entsprechen.

Foto: Phillipp Reiss via flickr.com , Lizenz: CC BY-ND 2.0

Die politikwissenschaftliche Forschung zu Bürgerbeteiligungsverfahren stellt zwar noch eine kleine, aber stetig wachsende Literatur in der Politikwissenschaft dar. Im Vordergrund politikwissenschaftlicher Betrachtungen stand dabei vor allem die Teilnahme an diesen Prozessen und insbesondere die vermutete soziale Selektivität dieser Formen politischer Beteiligung. Auch die Auswirkung dieser Verfahren auf die Teilnehmenden wurde wiederholt erforscht. Bisher ist jedoch wenig darüber bekannt, in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen, die in diesen Verfahren entwickelten Vorschläge und Beschlüsse umgesetzt werden. Bisher beschränkte sich hier der Kenntnisstand auf aus praktischer Erfahrung gewonnener anekdotischer Evidenz und einzelne Fallstudien.

In der Fachzeitschrift European Journal of Political Research erschien nun als „Early View“ die erste quantitative Analyse der Umsetzung von Vorschlägen lokaler Bürgerbeteiligungsverfahren. Die AutorInnen der Studie Joan Font, Graham Smith, Carol Galais und Pau Alarcon analysieren darin, welche Rolle der lokale Kontext, Verfahrenseigenschaften und darin entwickelte Vorschläge für die Umsetzung eines in einem Bürgerbeteiligungsverfahren entwickelten Gestaltungsvorschlags spielen.

Vorstellung des Analyseverfahrens

Die Autorin und Autoren betrachten eine vielfältige Sammlung partizipatorischer Prozesse in drei spanischen Regionen mit unterschiedlichem Entwicklungsstand und ungleicher Geschichte von Beteiligungsprozessen: Andalusien, Katalonien und Madrid. Dabei nehmen sie den Zeitraum zwischen zwei Kommunalwahlen im Jahr 2007 und 2011 in den Blick. Die Grundgesamtheit ihrer Studie sind sämtliche 403 Bürgerbeteiligungsverfahren in den Gemeinden dieser drei Regionen. Daraus wählten die Autoren 40 Verfahren durch eine geschichtete Stichprobe auf Basis der Region, Gemeindegröße, Anzahl der bisherigen partizipativen Prozesse und Prozessgestaltung aus. Für diese 40 Prozesse recherchierten sie die Umsetzung der im Rahmen dieser Verfahren entwickelten Vorschläge.

In der Analyse betrachten die Autoren einzelne Vorschläge, da sie die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass verschiedene Vorschläge, die aus demselben partizipativen Prozess hervorgehen, unterschiedlich behandelt werden können. Insgesamt begutachten sie über 540 in Beteiligungsverfahren erarbeitete Vorschläge. Sie unterscheiden zwischen drei Stufen der Umsetzung im politischen Prozess:

  1. abgelehnt (keine Umsetzung),
  2. teilweise implementiert oder modifiziert,
  3. vollständig implementiert.

Der Titel des Artikels „Cherry-Picking“ bezieht sich darauf, dass lokale Verwaltungen vermutlich nicht alle durch Bürgerbeteiligungsverfahren generierten Ideen umsetzen, sondern bei der Auswahl der umzusetzenden Vorschläge „Rosinenpickerei“ (engl. „cherry picking“) betreiben. So wurden innerhalb der betrachteten Verfahren nur in vier Verfahren sämtliche Vorschläge umgesetzt. In den übrigen Fällen wurde nur ein Teil der Vorschläge realisiert, in drei Fällen sogar kein einziger.

Für ihre Analysen unterscheiden die Wissenschaftler drei grundlegende Arten von Erklärungen:

  • der lokale Kontext (z. B. die Bevölkerungsgröße oder die Anzahl bisher durchgeführter Bürgerbeteiligungsverfahren),
  • die Ausgestaltung des Beteiligungsverfahrens (z. B., ob es sich um einen Bürgerhaushalt handelt oder wie viele Vorschläge entwickelt wurden) und
  • die Eigenschaften des konkreten Vorschlags (z. B. Kosten des Vorschlag oder die Unterstützung aus der Verwaltung).

Mittels eines statistischen Modells ermitteln sie, ob diese Faktoren die Umsetzung eines Vorschlags mehr oder weniger wahrscheinlich machen.

Ergebnisse der Studie – Verfahren und Inhalte sind wichtiger als Kontext

Was sind nun die wichtigsten Ergebnisse? Zunächst fällt auf, dass keiner der analysierten kontextuellen Faktoren Auswirkungen auf das Schicksal der Vorschläge hat. Weder die Größe noch der Wohlstand einer Gemeinde korrelieren signifikant mit der Umsetzung von Vorschlägen aus Bürgerbeteiligungsverfahren. Hingegen gibt es einige Verfahrenscharakteristika, die die Umsetzung von vorgebrachten Ideen wahrscheinlicher machen.

Zuvorderst sind hier Bürgerhaushalte zu nennen, deren Anträge wahrscheinlicher umgesetzt werden als die Vorschläge anderer Verfahren. Bürgerhaushalte haben laut den AutorInnen mindestens zwei Vorteile gegenüber anderen Formen der Bürgerbeteiligung. Der erste ist, dass im Allgemeinen innerhalb der Grenzen eines spezifischen Budgets gearbeitet wird, das für den Zweck der Verteilung durch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bestimmt ist: Lokale Behörden haben also in der Regel darauf geachtet, dass diese Mittel in das Ermessen der lokalen Bevölkerung gestellt werden und folgen daher eher den Entschließungen. Als zweiter Vorteil kann die häufig institutionalisierte Bürgeraufsicht der Bürgerhaushalte angeführt werden: Ausgewählte Teilnehmerinnen und Teilnehmer übernehmen dabei eine Rolle bei der Überwachung des Umsetzungsprozesses durch die lokale Regierung.

Zudem besteht ein leicht negativer Zusammenhang zwischen der Vorschlagshäufigkeit und der Umsetzungswahrscheinlichkeit: Je mehr Vorschläge aus einem Beteiligungsverfahren hervorgehen, umso geringer wird die Wahrscheinlichkeit jedes einzelnen Vorschlags, umgesetzt zu werden. Die Vorschläge aus Verfahren hoher Qualität – das impliziert den Einsatz von ModeratorInnen, BeraterInnen und umfangreichen Informationsmaterialien – werden ebenfalls eher realisiert. Die aufwendigere Durchführung mag aber auch lediglich den größeren Willen der Verwaltung ex-ante reflektieren, die Vorschläge der BürgerInnen umzusetzen. Wenig überraschend werden kostengünstigere Vorschläge zudem eher umgesetzt als teurere. Ebenso werden diejenigen, die auch eine externe Finanzierung, z. B. Ko-Finanzierung durch eine andere Regierungsebene aufweisen, eher umgesetzt. Letztlich haben es Vorschläge schwerer, die wesentlich von bisheriger Verwaltungspraxis abweichen, erfolgreich zu sein.

Fazit

Diese ersten Ergebnisse deuten an, dass „Rosinenpickerei“ stattfindet und vorhersagbar ist. Jedoch werden in fast allen Prozessformaten zumindest einige – wenn auch selten alle – erarbeiteten Vorschläge umgesetzt. Am erfolgversprechendsten scheinen Bürgerhaushalte auch deshalb, weil Kosten und Umsetzungsaufwand für die Verwaltung im Vorhinein absehbar sind.

Autor

Arndt Leininger, PhD, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und forscht zu Wahlen und Abstimmungen.

Literaturhinweise

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