15 Fremde beim Nürtinger Bürgerrat

Demokratiestärkung vor Ort: Warum Politik beteiligen soll

In seinem Gastbeitrag spricht Hannes Wezel, Referent im baden-württembergischen Staatsministerium für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, über seine positiven Erfahrungen mit einem Bürgerrat in Nürtingen.

Foto: Hannes Wetzel

Wie können politische Parteien durch gezielte Beteiligungsformate vor Ort die Demokratie stärken und Populismus entgegenwirken? Was können solche Formate leisten, um Politik und Bürgerschaft wieder näher zusammen zu bringen? Inwiefern kann Bürgerbeteiligung bei den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort Selbstwirksamkeit befördern und welche Chancen ergeben sich daraus für die Politik? Diesen Fragen widmete sich der Bürgerrat in Nürtingen, der im Herbst 2018 vom Ortsverband Bündnis 90/Die Grünen sowie der Gemeinderatsfraktion Nürtinger Liste/Grüne durchgeführt wurde. Sie haben zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger zum ersten Nürtinger Bürgerrat eingeladen. Der Bürgerrat ist ein besonderes Format, das aus Vorarlberg kommt und dort sogar in der Landesverfassung verankert ist.

Zufallsauswahl selber machen

Ganz fremd ist für uns Grüne das Aufsuchen und Ansprechen der Menschen ja nicht, schließlich haben wir gute Erfahrungen mit dem Haustürwahlkampf gemacht. Dazu passt es auch, dass wir uns näher mit dem Instrument der Zufallsauswahl für die politische Arbeit befassen. Dadurch eröffnet sich für uns die Möglichkeit, aus der eigenen politischen Blase herauszukommen und neue Milieus zu erreichen, auf dem Weg zur gesellschaftlichen Mitte. Die Zufallsauswahl kommt aus dem antiken Griechenland und passt eigentlich ziemlich gut zum demokratischen Verständnis der Grünen. Bereits damals wurden per Los Bürger für politische Ämter bestimmt. Heute kennt man das Verfahren aus der Sozialwissenschaft. Die grüne Staatsrätin der baden-württembergischen Landesregierung, Gisela Erler, arbeitet durchgängig mit diesem Instrument: Ob beim Filderdialog zu Stuttgart 21, den Nachbarschaftsgesprächen in schwierigen Quartieren, dem vielbeachteten Europadialog oder aktuell mit den Fokusgruppen zur Mobilitätsstrategie. Die Zufallsauswahl schafft Chancengleichheit und Neutralität für alle Einwohnerinnen und Einwohner. Es gibt keine Meinungsführerschaft bestimmter Gruppen. Durch die Zufallsauswahl kommen die Meinungen und Sichtweisen ganz unterschiedlicher Menschen aus unserer Stadt zum Ausdruck.

Neu in Nürtingen war, dass wir als Grünen Ortsverband die Zufallsauswahl selbst durchführten. Im Gegensatz zu den Kommunen, die in der Regel auf das Einwohnermelderegister zugreifen, entschieden wir uns für eine zufällige Telefonauswahl. Dazu nahmen wir uns das örtliche Telefonbuch vor und riefen nach dem Prinzip der systematischen Auswahl 180 Telefonnummern an. Das Vorhaben wurde den Angerufenen kurz erklärt und Fragen dazu beantwortet. Die Gespräche waren fast ausschließlich positiv, wertschätzend und interessiert. Bei Interesse wurde angeboten, weitere Informationen per Mail oder Post zuzusenden und sich noch einmal telefonisch zu melden. Gerade durch eine fortlaufende Kommunikation entsteht Verbindlichkeit und Interesse der Menschen. Es konnten immerhin zehn Prozent, also 18 Menschen, gewonnen werden. Wegen kurzfristiger Absagen machten am Ende 15 Personen beim Bürgerrat mit.

Im Kern geht es beim Bürgerrat darum, dass Politik sich aufmacht und zu den Leuten hingeht, sie einbindet, wertschätzt und vor allem den Menschen zuhört.

Kommunikation ist alles

Der Bürgerrat ist ein sehr wertschätzendes Beteiligungsformat, das ganz stark auf direkte Kommunikation und Empathie setzt. Dies ist möglich, da eine relativ kleine Gruppe (12 bis 15 Personen) beisammen ist. Die Moderationsmethode Dynamic Facilitation trägt dazu bei, dass alle Beteiligten gehört und ihre Beiträge visualisiert werden. Das gute Zuhören und das Gehörtwerden ziehen sich beim Bürgerrat wie ein „grüner Faden“ durch. Natürlich geht es auch um die guten Ideen der Bürgerinnen und Bürger, die sie wie am Fließband produzieren. Im Kern geht es beim Bürgerrat darum, dass Politik sich aufmacht und zu den Leuten hingeht, sie einbindet, wertschätzt und vor allem den Menschen zuhört. So war das auch in Nürtingen. Es geht um gute Kommunikation per se und nicht nur darum, im Vorbeigehen einen Flyer in die Hand zu drücken oder in handgemachten Formaten ein paar bunte Moderationskarten zu beschreiben. Beim Bürgerrat geht es auch um eine Beziehungsebene. Im ersten Schritt erarbeiten die zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürger Herausforderungen, Bedenken und Lösungen für ein konkret formuliertes Thema. Die Fragestellung wurde durch eine Mitgliederbefragung ermittelt. Sie sollte idealerweise ein Problem gut umreißen. Das Problem und im Idealfall die Lösungen müssen die Leute ansprechen. Dazu eignet sich meist die Formulierung: „Wie können wir…?“ In unserem Falle: „Wie kann in Nürtingen ein lebendiges Miteinander aussehen?“ Oder: „Was brauchen wir für ein gutes Zusammenleben?“ Je konkreter ein Thema ist und die Betroffenheit der Menschen angesprochen wird, desto eher sind sie bereit, mitzuarbeiten.

An einem wertschätzenden Ort

Ein wesentlicher Erfolgsfaktor war in Nürtingen auch der Ort, an dem der Bürgerrat durchgeführt wurde. Vornweg, grüne Geschäftsstellen und einschlägige Szeneorte sind tabu. Wenn wir Menschen ansprechen wollen, die wir bislang nicht auf dem grünen Radar haben, müssen wir an neutrale, besser noch an außergewöhnliche Orte gehen. Mit einem besonderen Ort setzt man auch einen gewissen Anreiz zum Kommen und Mitmachen. Die Nürtinger Grünen folgten dieser Prämisse und luden in die Stiftung Domnick ein, wunderbar gelegen auf einer Anhöhe am Rande der Stadt mit herrlichem Blick auf die Schwäbische Alb. Mit diesem Ort hat man insofern einen Volltreffer gelandet, als sich herausstellte, dass von den 15 Teilnehmerinnen und Teilnehmern erst drei in der „Villa Domnick“ waren. Der Bürgerrat fand dort inmitten der Gemäldeausstellung in einem tollen Ambiente statt. Eine gute Versorgung mit Essen und Getränken ist selbstredend. Die Vorarlberger gehen sogar noch einen Schritt weiter und laden zum Bürgerrat am Wochenende mit Übernachtung ein. Es geht darum, einen wertschätzenden Rahmen zu schaffen, in dem sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wohlfühlen.

Es geht ums Zuhören und Gehörtwerden

Die Ergebnisse des Nürtinger Bürgerrats können sich sehen lassen. Fünf Themenbereiche wurden erarbeitet und zwei Wochen später öffentlich vor 40 Bürgerinnen und Bürgern präsentiert: Attraktivität der Stadt steigern. Die Außenwirkung und die Identität der Stadt stärken. Für ein gutes Zusammenleben und die Integration Sorge tragen. Die Mobilität verbessern genauso wie die Zusammenarbeit zwischen Gemeinderat, Bürgerschaft und Rathaus.

Im Fishbowlformat konnten dabei auch andere Bürgerinnen und Bürger die Ergebnisse kommentieren. Die Gemeinderätinnen und Gemeinderäte der Nürtinger Liste/Grüne hörten aufmerksam zu, fragten nach und hatten bereits einige der Ergebnisse in ihren Haushaltanträgen verarbeitet.

Und was wird nun daraus?

Und dann, wenn alle Flipcharts beschrieben sind und die Metaplanwände voll bunter Kärtchen hängen, wenn die Bürgerinnen und Bürger feststellen, die Politik hat mir tatsächlich zugehört, was ist dann? Was passiert mit all dem, was die zufällig Ausgewählten erarbeitet haben? Was wird aus der Erfahrung, dass Politik und Bürger sich wieder näher gekommen sind? Zunächst ist klar, dass der Bürgerrat ein temporäres, dreistufiges Format ist. Die Arbeit der zufällig Ausgewählten, die Präsentation der Öffentlichkeit und schließlich die Übergabe an die Politik. Wichtig ist es, dass die entstandene Kommunikation weitergeht und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer über weitere Verfahrensschritte informiert werden: Übergabe der Ergebnisse an den Oberbürgermeister, Weiterverarbeitung für das Kommunalwahlprogramm und auch darüber hinaus, wenn Projekte umgesetzt werden.

Das Fazit der Beteiligten fällt überaus positiv aus. „Die Erfahrung hat mir Mut gemacht, mehr Engagement für unsere Stadt zu zeigen. Das war hier eine anständige Diskussionskultur, gute Gespräche, neue Leute kennengelernt und Gemeinsamkeiten gefunden. Mein Blickwinkel hat sich erweitert, über den Tellerrand hinaus und es gab große Übereinstimmung über Generationen hinweg.“ Grünen-Herz, was willst du mehr?

 

Zur Person

Hannes Wezel engagiert sich ehrenamtlich beim Ortsverband von Bündnis 90/ Die Grünen in Nürtingen. Er arbeitet seit vielen Jahren im Bereich Bürgerbeteiligung und Bürgerengagement. Seit 2011 ist er Referent bei der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung im Staatsministerium Baden-Württemberg. 

Literaturhinweise

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Jörg Bogumil; Lars Holtkamp; Leo Kißler

Kooperative Demokratie: Das politische Potenzial von Bürgerengagement Buch

Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2006, ISBN: 978-3593380131.

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Peter Hocke

Massenmedien und lokaler Protest Buch

Westdeutscher Verlag, Opladen, 2002.

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Peter Dienel

Die Planungszelle. Der Bürger als Chance Buch

VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden , 2002.

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Kinder reden mit! Beteiligung an Politik, Stadtplanung und Stadtgestaltung Buch

Beltz, Weinheim, 1995.

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Planning Cells: A Gate to „Fractal“ Mediation Buchabschnitt

In: Thomas Webler; Peter Wiedemann (Hrsg.): Fairness and Competence in Citizen Participation: Evaluating Models for Environmental Discourse, Kluwer, Dordrecht, 1995.

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Peter Dienel

New Options for Participatory Democracy Buchabschnitt

In: Chiranji Yadav (Hrsg.): Perspectives in Urban Geography, City Planning: Administration and Participation, Concept Publishing Company, New Delhi, 1986.

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Robert Jungk; Norbert Müllert

Zukunftswerkstätten: Wege zur Wiederbelebung der Demokratie Buch

Goldmann Verlag, München, 1983.

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Talcott Parsons

Zur Theorie sozialer Systeme Buchabschnitt

In: Stefan Jensen (Hrsg.): Studienbücher zur Sozialwissenschaft, Bd. 14, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 1976, ISBN: 978-3-322-83798-1.

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Sherry Arnstein

A Ladder of Citizen Partizipation Artikel

In: Journal of the American Planning Association, Bd. 35, Nr. 4, S. 216-224, 1969.

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