Die vier Dimensionen gelingender Beteiligung

Foto: Ylva Sommer, Archiv

Unser politisches System befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel. Das Prinzip der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie beruht darauf, komplexe Entscheidungen und die Interessen unterschiedlicher Gruppen durch gewählte Volksvertreter abwägen zu lassen. Das funktioniert nur, solange alle Beteiligten die so getroffenen Entscheidungen respektieren.

Aktuell sind jedoch die Signale für die Erosion der Strukturen unserer repräsentativen Demokratie unübersehbar. Einerseits erleben wir weitgehende Verweigerung der Teilnahme an Wahlen auf allen politischen Ebenen und politisches Desinteresse. Andererseits beobachten wir immer wieder geradezu explosionsartig anwachsende Bürgerproteste, die zu scharfen Konflikten führen und unsere aktuellen politischen Strukturen und Akteure überfordern. Offensichtlich haben die politischen Institutionen Legitimierung und Handlungsspielraum verloren.

Zunehmend wird es für unsere politischen Eliten schwieriger, häufig sogar unmöglich, aus einer Kakophonie von Partikularinteressen und Lobbyismus sinnvolle, zukunftsfähige und gesellschaftlich akzeptierte Politik zu entwickeln. Die Einflüsse des institutionellen Lobbyismus von Unternehmen und Verbänden sind bekannt. Neu dazu gekommen ist in den letzten Jahren immer stärker auftretender Bürgerlobbyismus. Es sind plötzlich auftretende Protestbewegungen, die binnen weniger Wochen eine ungeheure Wucht entfalten können. Ihr Ziel ist fast immer die Verhinderung politischer Gestaltung. Dabei können sie politisch eher links oder rechts verortet werden. Sie können eher selbstlose politische Ziele vertreten, doch häufig betreffen sie auch rein subjektive Interessen der Betroffenen. Sie können auf einen engen lokalen Bezug reduziert werden oder die vermeintlichen Interessen einer bundesweiten gesellschaftlichen Gruppe widerspiegeln. Egal ob es um Proteste gegen Bahnhöfe, Windräder, Stromleitungen, Flüchtlinge oder den Euro geht: Repräsentative Politikkonzepte, die davon ausgehen, dass demokratisch gewählte politische Eliten in der Lage sind, sämtliche für die Gesellschaft wichtigen Entscheidungen zu treffen, die anschließend auch eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung finden, funktionieren nicht mehr.

Das Prinzip des „Erst entscheiden, dann kommunizieren“ hat sich überlebt. Die Bürgerinnen und Bürger wollen sich nicht mehr mit der bisherigen Arbeitsteilung der repräsentativen Demokratie zufrieden geben. Diese Bürgerinnen und Bürger als „Wutbürger“ zu bezeichnen, ist populär, wird jedoch der Tiefe des Konfliktes nicht gerecht. Es stimmt: Häufig ist der Auslöser für das Engagement unmittelbare persönliche Betroffenheit. Nicht selten geht es um die Verhinderung von Projekten, die die eigene Lebensqualität einschränken. Stets ist aber die Frustration über einsame Entscheidungen von „denen da oben“ ganz wesentlich für die häufig stürmische Eskalation der Proteste verantwortlich.

Doch es ist beileibe nicht so, dass die Bürgerinnen und Bürger sich frustriert von der Politik abgewandt haben und nur dann in Bewegung kommen, wenn sie persönliche Nachteile befürchten: Zu Infrastrukturprojekten wie neuen Straßen, Kraftwerken oder Stromtrassen wünschen sich 89% der Bürger mehr Mitsprachemöglichkeiten. Dies geht aus einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid im Auftrag der Bertelsmann Stiftung hervor. Die Bereitschaft der Bürger, sich während der Planungsphase eines Infrastrukturprojekts zu engagieren, ist hoch. Jeder zweite Bürger kann sich vorstellen, sich intensiv mit dem Projekt zu beschäftigen. Für ein Drittel der Befragten ist es sogar denkbar, sich über einen längeren Zeitraum zu engagieren. Die Bürgerinnen und Bürger wollen sich also durchaus an der Gestaltung unserer Gesellschaft beteiligen. Sie fordern diese Beteiligung allerdings direkt und unmittelbar ein. Kein Wunder also, dass neue Formen politischer Willensbildung entstehen. Bürgerbeteiligung ist dabei nur ein Sammelbegriff für völlig unterschiedliche Formate und Prozesse. Und nicht alle Erfahrungen mit Bürgerbeteiligung sind ausnahmslos positiv. Immer wieder stoßen Anbieter von Beteiligung entweder auf Desinteresse oder umgekehrt auf ein bereits politisch vergiftetes Klima, das den Prozess unkontrollierbar eskalieren lässt. Auf der anderen Seite haben gerade kritische Konfliktparteien oft große Vorbehalte und wähnen eine „Mitmachfalle“.

Wenn solche Beteiligungsprozesse scheitern, dann oft, weil die Beteiligung erst dann beginnt, wenn ein ursprünglich geplantes Projekt mit unerwartetem Widerstand konfrontiert wird. Beteiligung, die zu spät erfolgt, hat einen schweren Stand. Aber auch frühzeitige Beteiligung wird nicht automatisch erfolgreich sein, wenn sie nicht alle vier Dimensionen gelingender Bürgerbeteiligung berücksichtigt.

Gelingende Beteiligung als vierdimensionaler Prozess

Fast immer wenn wir im Nachhinein misslungene Beteiligungsprojekte analysieren, stellen wir fest, dass von diesen vier Dimensionen nur eine oder zwei im Fokus standen. Häufig sehen die verantwortlichen Institutionen den Beteiligungsprozess

1. als Mittel zur Legitimierung bereits zuvor repräsentativ getroffener Entscheidungen von übergeordneter gesellschaftlicher Relevanz sowie

2. als Mittel zur Schaffung von Akzeptanz von ggf. auch unpopulären aber nötigen Entscheidungen.

Eine solche zweidimensionale Bürgerbeteiligung bleibt in bisherigen elitären Politikkonzepten verhaftet, weil sie sich auf die Vermittlung von Entscheidungen und die Befriedung von dadurch entstandenen Konflikten konzentriert, also lediglich an den Symptomen kuriert. Nachhaltig erfolgreich kann nur die Etablierung einer neuen Beteiligungskultur sein, die der repräsentativen Demokratie Formen einer Bürgergesellschaft zur Seite stellt, indem sie der Bürgerbeteiligung zwei weitere Dimension hinzufügt:

3. Die Bürgerbeteiligung als Prozess zur Qualifizierung von Entscheidungen und Ergebnissen, die dank der zahlreichen beteiligten „Experten in eigener Sache“ Lösungen erarbeitet, die gesellschaftlich akzeptierter und häufig auch fachlich besser ausfallen, als es ein rein repräsentativer Prozess hätte leisten können

4. Die Bürgerbeteiligung als Mittel zur Emanzipation der Bürgerinnen und Bürger als Subjekte politischer Gestaltung unserer Gesellschaft.

Diese beiden Dimensionen sind gerade für Entscheider in Politik und Wirtschaft nicht immer leicht zu akzeptieren, doch sie sind essentielle Voraussetzungen für gelingende Bürgerbeteiligung. Nur, wer akzeptiert, dass ein Beteiligungsprozess nicht nur unerwartete sondern tatsächlich bessere Ergebnisse liefern kann als repräsentativ-elitäre Entscheidungsverfahren, der ist auch bereit, die Bürgerinnen und Bürger als Subjekte von politischen Entscheidungsprozessen wertzuschätzen.

Erst dann sind die Voraussetzungen für wirklich gelingende Verfahren gegeben. Denn diese bedürfen einer maximalen Transparenz und Lernbereitschaft auch auf Seiten der Beteiliger. Nur dann sind sie ergebnisoffen. Nur dann wird für die Beteiligten erkennbar, dass sie eine tatsächliche Rolle im Prozess spielen. Nur dann wirken sie integrierend.

Dimension 1: Legitimierung

Theoretisch sind politische Entscheidungen in unserer parlamentarischen Demokratie rechtlich ausreichend legitimiert, wenn sie von dafür demokratisch gewählten Repräsentanten in einem rechtlich gültigen Verfahren mehrheitlich getroffen wurden. Gleiches gilt z.B. für Investitionsentscheidungen von Unternehmen. Auch dort sind die zwar nicht gewählten sondern von den Anteilseignern eingesetzten Vorstände oder Geschäftsführungen legitimiert, im Rahmen geltender Gesetze Investitionsentscheidungen zu treffen. Warum also sollte Bürgerbeteiligung eine legitimatorische Dimension berücksichtigen?

Weil Legitimität weit mehr ist als Gesetzeskonformität. Eine gesellschaftliche (soziologische) Legitimität kann sich nach Franz Oppenheimer (1907) nur an der Realität orientieren. Die Staatsangehörigen akzeptieren die staatliche Herrschaft durch Zustimmung oder Resignation. Diese Hinnahme wird als Legitimation (Rechtfertigung) verstanden. Dadurch, dass die meisten Menschen das politische System auf diese Art tragen, erhält es Stabilität.

Ziel von Bürgerbeteiligung ist es, die Legitimität einer Entscheidung oder eines Verfahrens durch Zustimmung möglichst vieler interessierter Bürgerinnen und Bürger zu erreichen. Ebenso legitim wäre es demnach auch, wenn eine aktive Zustimmung nur von wenigen Beteiligten artikuliert würde, die große Mehrheit aber durch stillschweigende Duldung, z.B. aufgrund eines als fair empfundenen Verfahrens, das Ergebnis sanktionieren würde.

Eindimensionale, allein auf Legitimität ausgerichtete Verfahren neigen naturgemäß zur Konfliktvermeidung. Ihr Ziel ist es, formale Angebote zu machen, ohne tatsächlich auf eine maximale Beteiligung Wert zu legen. Die Durchführung eines zügigen Beteiligungsverfahrens mit möglichst wenig Diskurs, Konflikt und Widerspruch würde also allein aus der Perspektive der Legitimität durchaus einen Sinn ergeben. Die in deutschen Planungsverfahren allgemein vorgesehene Öffentlichkeitsbeteiligung folgt in der Regel diesem Prinzip. Der Erfolg dieser Verfahren bemisst sich an möglichst wenigen Einsprüchen und daraus eventuell resultierenden Notwendigkeiten zu Planänderungen.

Immer häufiger führen diese Verfahren jedoch zu nicht zufrieden stellenden Ergebnissen. Entscheidung und Planungsverfahren z.B. zum Projekt Stuttgart 21 der Deutschen Bahn waren nach den oben skizzierten Kriterien völlig legitim. Doch binnen weniger Wochen war diese Legitimität von der Protestbewegung hinweggefegt. Dass die Bürgerinnen und Bürger sich zunehmend unbeeindruckt davon zeigen, wenn ein Projekt bereits einen behördlichen Genehmigungsstempel trägt, sollten Planer daher als Realität anerkennen. Der Rückzug auf rein legitimatorische Argumentationen (wie in Stuttgart von Bahn und Landesregierung lange praktiziert) nützt im Konfliktfall nichts und wirkt eher eskalierend. Deshalb sollten Beteiligungsverfahren zwar stets die legitimatorischen Prinzipien berücksichtigen, dürfen sich aber nie auf diese Eindimensionalität beschränken – sonst sind sie im Falle eines Konfliktes ohne Wert.

Dimension 2: Akzeptanz

Legitimität kann, wie wir gesehen haben, durch Zustimmung entstehen. Sie kann aber auch durch Resignation und Nichtteilnahme hergestellt werden – ist dann aber zumeist mit kurzem Verfallsdatum versehen. Beteiligungsverfahren, deren Ergebnisse Bestand haben sollen, zielen deshalb auf eine nachhaltige soziologische Legitimität – auf Akzeptanz.

Aus dem Ziel der Akzeptanz ergeben sich zwei weitere Ziele des Beteiligungsprozesses: Eine maximale Beteiligung, verbunden mit einer maximalen Zustimmung. Verfahren, die nur von wenigen Bürgerinnen und Bürgern begleitet werden, mögen Legitimität erzeugen, doch erst bei einer nennenswerten Beteiligung und einem möglichst viele der Beteiligten zufriedenstellenden Ergebnis kann Akzeptanz auch über das Verfahren hinaus Bestand haben.

Dabei kann die Akzeptanz im optimalen Fall durch ein weitgehend konsensual herbeigeführtes Ergebnis erzielt werden. Denkbar ist jedoch auch eine Entscheidung, die nur von einem Teil der Beteiligten aktive Zustimmung erfährt – wenn sie auf Basis eines offenen, transparenten, fairen Diskursprozesses entstanden ist und so auch den „unterlegenen“ Teilnehmern eine Akzeptanz des sie nicht hundertprozentig zufriedenstellenden Ergebnisses ermöglicht. Die Dimension der Akzeptanz zu berücksichtigen heißt also, besonderen Wert auf das partizipative Verfahren selbst zu legen und sowohl auf ein möglichst breit getragenen Ergebnis zu orientieren, als auch möglichen Minderheiten eine Partizipation zu ermöglichen, die diese zufriedenstellt.

In der Praxis wird die Dimension der Akzeptanz jedoch nicht selten so interpretiert, als ginge es im Beteiligungsverfahren darum, eine Akzeptanz für eine bereits offiziell getroffene oder informell verabredete Entscheidung der repräsentativen Institutionen zu erzielen. Das kann durchaus funktionieren, scheitert aber weit öfter daran, dass die beteiligten Bürgerinnen und Bürger sehr schnell ein erstaunlich sensibles Gespür dafür entwickeln, ob sie als Subjekte des Beteiligungsverfahrens oder als Objekte einer politischen Durchsetzungsstrategie behandelt werden. Meist zeichnen sich letztere Verfahren durch wenig offene Formate, kaum kritische Diskurse und sehr zurückhaltende Transparenz der Veranstalter aus. Häufig erwarten diese von den beauftragten Dienstleistern aufwändig dramaturgisch durchchoreographierte Formate. Es gibt für solche Formate sogar ausgewiesene Spezialisten.

So schrieb der SPIEGEL (Ausgabe 24/2015) über den nach diesen Prinzipien von einer professionellen Regie inszenierten „Bürgerdialog“ der Kanzlerin: „Die Bundesregierung ließ Titel und Inhalte ihres neuen Bürgerdialogs im Vorfeld von Demoskopen testen. Das zeigen interne Analysen des Meinungsforschungsinstituts GMS für die Bundesregierung, die dem SPIEGEL vorliegen. Demnach schlugen ausgewählte Testpersonen in sogenannten Fokusgruppen für den Dialog zunächst Titel wie ‚Wir dürfen endlich mitbestimmen’ oder ‚Wir Politiker hören Euch jetzt zu’ vor. Das Kanzleramt entschied sich jedoch für den Slogan ‚Gut Leben in Deutschland – was uns wichtig ist’. In den Fokusgruppen zeigten sich die Testpersonen teils wenig begeistert von dem neuen Instrument. ‚Der Einzelne bewegt ja doch nichts’, ‚Am Ende stehen doch nur die Politiker im Vordergrund’, lauteten einige der überwiegend negativen Statements. Die Grundidee eines Dialogs werde zwar durchaus positiv bewertet, schrieben die Demoskopen in einem Fazit: ‚Erkennbar ist allerdings die Skepsis, dass das Format gleichwohl nur Interesse vortäuscht und eher der ,Bürgerberuhigung‘ dient.’“

So oder so ähnlich werden in Deutschland immer wieder Beteiligungsformate realisiert, die sich allein auf Legitimität und Akzeptanz konzentrieren, mit stets unzufriedenstellenden Wirkungen: Ein für die Kanzlerin regelmäßig erstelltes „Eigenschaftsprofil Merkel“ zeigte, dass sie beim Thema Bürgernähe nur mittelmäßig abschnitt. Laut Forschungsgruppe Wahlen fanden im Oktober 2014 nur 50,2 Prozent der Bürgerinnen und Bürger, dass Merkel bürgernah sei. Mit ihren „Bürgerdialogen“ dürfte sich diese Einschätzung kaum verbessern.

Dimension 3: Qualität

Bürgerbeteiligung und Qualität – für viele Repräsentanten und nicht wenige Journalisten scheint dies ein potentieller Widerspruch zu sein. Akzeptanz, Legitimierung, gesellschaftliche Befriedung, das wird Beteiligungsverfahren zugetraut. Erwartet wird dabei jedoch entweder eine Akzeptanz „alternativloser“ Entscheidungen oder ein ggf. im Interesse einer Akzeptanz „verwässerter“ Kompromiss. Dahinter steckt meist die Einschätzung, dass komplexe politische Fragen über den Horizont der meisten Bürgerinnen und Bürger hinaus gehen würden. Dass dem nicht so ist, betonte schon vor einer Generation der große schwedische Demokrat und Ministerpräsident Olof Palme: „Es ist eine Irrlehre, dass es Fragen gibt, die für normale Menschen zu groß oder zu kompliziert sind. Akzeptiert man einen solchen Gedanken, so hat man einen ersten Schritt in Richtung Technokratie, Expertenherrschaft, Oligarchie getan. Politik ist zugänglich, ist beeinflussbar für jeden. Das ist der zentrale Punkt der Demokratie.“

In der Tat berichten Teilnehmer und Veranstalter wirklich gelungener Beteiligungsprozesse häufig davon, dass die Ergebnisse in Teilen oder zur Gänze von einer deutlich höheren Qualität waren als vorherige Überlegungen in Verwaltung, Parlament oder Geschäftsführung. Dies ist auch nicht weiter überraschend, denn es ist weitaus schwieriger, am grünen Tisch alle eventuellen Folgen und Betroffenheiten korrekt einzuschätzen. Viel effizienter ist es, alle Betroffenen ihre Sicht der Dinge und ihre Vorschläge zur Lösung vortragen und mit den anderen Beteiligten ausverhandeln zu lassen. So entstehen Ergebnisse, die auf nachhaltige Akzeptanz ausgelegt sind und deshalb eine hohe Qualität aufweisen müssen.

Nicht in jedem Prozess weichen am Ende die Ergebnisse erheblich von den Vorüberlegungen der Veranstalter ab. Doch die offene Erwartung einer qualitativen Verbesserung vorheriger Überlegungen sorgt stets für eine wesentliche Voraussetzung gelingender Bürgerbeteiligung: Konsequente Ergebnisoffenheit. Sie erzeugt Beteiligungsbereitschaft, sie fördert diskursorientierte Formate, sie hält zu einer größtmöglichen Transparenz an und fördert einen wertschätzenden Umgang mit allen Beteiligten.

Dimension 4: Emanzipation

Wenn ich in Beratungsprozessen gebeten werde, diese vierte Dimension gelingender Bürgerbeteiligung zu erläutern, stoße ich immer wieder auf Stirnrunzeln oder gar offenen Widerspruch. Der Begriff der Emanzipation steht in Deutschland noch immer unter Ideologieverdacht – und in Beteiligungsprozessen wird Ideologie, nicht ganz zu Unrecht, immer noch als Risikofaktor eingestuft. Doch vergegenwärtigen wir uns: Wir denken über neue Formate der Bürgerbeteiligung nach, weil unsere repräsentativ orientierte Demokratie an ihre Grenzen gestoßen ist. Würden die Entscheidungen unserer politischen und wirtschaftlichen Eliten widerspruchslos akzeptiert, gäbe es keine Attraktivität der Bürgerbeteiligung. Würde die formale Legitimierung repräsentativer Entscheidung genügen, um Akzeptanz zu sichern, würde ihre Qualität nicht hinterfragt, wäre Bürgerbeteiligung kein Thema. Die drei Dimensionen Legitimierung, Akzeptanz und Qualität allein reichen also nicht aus. Bürgerbeteiligung muss eine vierte Dimension berücksichtigen, wenn sie tatsächlich etwas zu den Herausforderungen unserer Gesellschaft beitragen will.

Es ist die Emanzipation der Bürgerinnen und Bürger vom Objekt politischen Elitenhandelns hin zum Subjekt politischer Prozesse, vom Zuschauer zum aktiv Gestaltenden. Erst wenn die Bürgerinnen und Bürger im Zentrum eines Beteiligungsprozesses stehen, wenn sie vom dramaturgisch verplanten Objekt zum Hauptakteur werden, dann kann ein Beteiligungsprozess gelingen. Denn wer als Anbieter eines Beteiligungsprozesses die Bürgerinnen und Bürger im Fokus hat, der versteht sich als Dienstleister und Ermöglicher eines ergebnisorientierten Diskurses, nicht als Regisseur einer Inszenierung.

Die emanzipative Ausrichtung ist ein Gradmesser für die Qualität des Prozesses und für die Ernsthaftigkeit der Veranstalter. Vor allem erleichtert sie in jeder einzelnen Detailfrage eines Verfahrens, vom Einladungsmanagement über die Ausgestaltung der Themenfindung bis hin zur Ergebnissicherung und die Besetzung eines eventuellen Begleitgremiums, die Entscheidungsfindung erheblich. Was immer die Wahrnehmung der Beteiligten als Gestalter des Prozesses fördert, ist gut, richtig und wichtig für das Verfahren.

Ein Prozess, vier Dimensionen, viele Formate

Die Bürgerbeteiligung ist in Deutschland ein zwar stark wachsendes, aber noch immer recht neues Feld. Noch gibt es keine allgemeinverbindlichen Kriterien für gelingende Bürgerbeteiligung. Jedes Verfahren hat eine andere Vorgeschichte, andere Themen, andere Beteiligte. Trotz aller wissenschaftlicher Bemühungen ist eine harte Standardisierung weder zu erwarten noch zielführend. Eben weil die Ausgestaltung eines jeden Beteiligungsprozesses von den Beteiligten maßgeblich beeinflusst werden muss, sind Checklisten, Standards und vermeintliche „Komplettpakete“ spezialisierter Anbieter mit Vorsicht zu genießen.

Die Liste praktizierter und bewährter Formate ist lang, regelmäßig kommen neue hinzu. Nicht alle Formate funktionieren bei allen Themen und Beteiligten. Um so wichtiger und hilfreicher ist es, jedes Beteiligungsverfahren in seiner Gesamtheit, aber auch jedes einzelne geplante Format auf alle vier geschilderten Dimensionen hin zu prüfen. Im Idealfall berücksichtigt es alle vier Dimensionen. Auch wenn einzelne Formate im Rahmen eines Gesamtprozesses unterschiedliche Schwerpunkte setzen können, so sollte das gesamte Verfahren stets alle Dimensionen ausreichend berücksichtigen und jedes Beteiligungskonzept vor dem Start des Verfahrens offen und transparent alle vier Dimensionen und die entsprechenden Angebote darstellen.

Ein solches Vorgehen schützt nicht vor Fehlern und Konflikten, aber es sorgt dafür, dass ein Beteiligungsverfahren diese Fehler nicht als Risiko fürchten muss, sondern als Chancen nutzen kann.

Der Autor

Der Autor, Jörg Sommer, ist Vorstandsvorsitzender der Deutschen Umweltstiftung und seit vielen Jahren gestaltend in Beteiligungsprozessen tätig. Dieser Text ist dem von ihm herausgegeben KURSBUCH BÜRGERBETEILIGUNG entnommen.

Literaturhinweise

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Crossmediales Wissensmanagement auf kommunaler Ebene: Bürgerbeteiligung, Netzwerke, Kommunikation Buch

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Frauen im Feld kommunaler Politik. Eine qualitative Studie zu Beteiligungsbarrieren bei Online-Bürgerbeteiligung Buch

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Jan Abt, Bianka Filehr, Ingrid Hermannsdörfer, Cathleen Kappes, Marie von Seeler, Franziska Seyboth-Teßmer

Kinder und Jugendliche im Quartier - Handbuch und Beteiligungsmethoden zu Aspekten der urbanen Sicherheit Forschungsbericht

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Irmhild Rogalla, Tilla Reichert, Detlef Witt

Partii - Partizipation inklusiv Forschungsbericht

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