Stuttgart 21 – Bürger mischen sich ein

Stuttgart 21 Walter Kubach (DIE LINKE Baden-Württemberg) via Flickr.com, Lizenz: CC BY-ND 2.0

Wie kam es zum Konflikt um Stuttgart 21?

Stuttgart 21 ist ein Projekt aus dem letzten Jahrhundert, ein Relikt aus einer Zeit, in der Züge noch nicht rückwärts fahren konnten. Weil das Wenden der Züge in Kopfbahnhöfen aufwändig war – die Lok musste umgekoppelt werden, was Zeit, Personal und zusätzliche Loks benötigte – gab es die Idee, Kopfbahnhöfe in Durchgangsbahnhöfe umzubauen (unter anderem in München, Frankfurt, Stuttgart). Gleichzeitig waren Baugrundstücke in Großstädten schon damals knapp und teuer. Die Deutsche Bahn erwog, solche Bahnhöfe unter die Erde zu verlegen – auch, um die Flächen der bisherigen oberirdischen Kopfbahnhöfe als Bauland teuer verkaufen zu können.

Doch schon kurz nachdem die Idee „Stuttgart 21“ geboren war, wurde das Ausgangsproblem anderweitig gelöst: Dank Steuerwagen kann heute jeder Zug in beide Richtungen fahren. Das Wenden geht schnell und einfach, die Durchgangsbahnhofs-Projekte verschwanden in der Mottenkiste der Geschichte. So auch Stuttgart 21: Bahnchef Johannes Ludewig stellte das Projekt 1999 wegen der zu erwartenden hohen Kosten und mangelndem Nutzen ein. Stuttgart 21 war für das Unternehmen Deutsche Bahn AG viel zu teuer – die Bahn hatte kein Interesse, ein solches Milliardengrab aus eigenen Mitteln zu finanzieren.

Es ist unklar, warum ausgerechnet Stuttgart 21 wieder aus der Mottenkiste hervorgezogen wurde. Tatsache ist, dass die DB AG mit exorbitanten Zuschüssen vom Land Baden-Württemberg, von der Region Stuttgart sowie von der Stadt Stuttgart dazu motiviert wurde, das Projekt wieder aufzugreifen. Die offiziell bemühte Begründung vom „städtebaulichen Nutzen“ erscheint wenig plausibel angesichts horrender Kosten einerseits und großer Leerstände und Brachflächen in gleicher Lage andererseits.

Im Frühjahr 2010, als der Konflikt um Stuttgart 21 bundesweit bekannt wurde, bestand folgende Situation: Die Politik trieb ein milliardenschweres Projekt mit Vehemenz voran, das den Interessen der Bürger und dem Gemeinwohl in vielerlei Hinsicht diametral entgegenstand. Die offiziellen Begründungen für Stuttgart 21 waren veraltet und unglaubwürdig. Für die Bürger war das Fass voll, sie gingen zu Tausenden auf die Straße, und die Republik freute sich über die selbstbewussten und mutigen Schwaben, die ihre Art der Bürgerbeteiligung gefunden hatten.

Bürgerbeteiligung – selbstbestimmt oder vorgegeben?

Es gibt viele Spielarten der Bürgerbeteiligung. Grundlegend unterscheiden sollte man zweierlei: Entweder die Bürger beteiligen sich ungefragt (aktiv) oder sie werden von Politikern, der Verwaltung oder von großen Unternehmen beteiligt (passiv). Im ersten Fall geht der Prozess von den Bürgern aus, im zweiten wird der Beteiligungsprozess an die Bürger herangetragen. Die Frage ist: Bestimmen die Bürger das Thema ihrer Beteiligung selbst oder wird es ihnen vorgegeben? Wollen sie sich beteiligen oder sollen sie sich beteiligen? Und schließlich: Wer ist Herr des Verfahrens? die Bürger oder die Politik, die Verwaltung, das Unternehmen? Um Bürgerbeteiligung im eigenen Sinne zu nutzen und Mitmachfallen zu vermeiden, muss man sich der Ausgangslage bewusst sein. Wenn Bürger beteiligt und eingebunden werden sollen, geht es allzu oft nicht um die Interessen der Bürger, sondern um die Interessen der Initiatoren: Es soll nachträglich die Akzeptanz für längst getroffene Entscheidungen geschaffen werden, Kritiker sollen mundtot gemacht und ins politische Abseits manövriert werden.

Der Wettstreit um die öffentliche Meinung

In unserer Demokratie werden Entscheidungen von gewählten Politikern getroffen. Wenn die Bürger über Wahlen hinaus Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen wollen, müssen sie Einfluss auf die verantwortlichen Politiker nehmen (ebenso wie die Lobbyisten). Das wichtigste Instrument der Bürger ist dabei die öffentliche Meinung: Politiker sind darauf angewiesen, wiedergewählt zu werden, sie sind abhängig von der Gunst der Bevölkerungsmehrheit. Wenn ein Politiker an der Macht bleiben will, kann er es sich nicht leisten, die öffentliche Meinung gegen sich aufzubringen. Er ist genötigt, sein Fähnchen wenigstens halbwegs nach dem Wind zu richten. Wer die Windrichtung der öffentlichen Meinung beeinflussen kann, kann politische Entscheidungen beeinflussen. Bei jeder Art der Bürgerbeteiligung geht es also darum, den Wettstreit um die öffentliche Meinung für sich zu entscheiden.

Die erste Frage dabei ist: Wen will ich erreichen und wen kann ich erreichen? In der Grafik „erreichbare Bürger“ ist dies für Stuttgart 21 dargestellt: Ziel ist es, mindestens die Einwohner von Stuttgart (604.000, dunkelgraues Quadrat) oder besser die Einwohner von Baden-Württemberg (10.648.000, hellgraues Quadrat) zu erreichen, um die Politiker unter Druck setzen zu können. Tatsächlich aktiv geworden sind 34.300 Menschen, die sich auf der Webseite www.parkschuetzer.de als Unterstützer eingetragen haben, sowie die 100.000 Bürger, die zur größten Demo gegen Stuttgart 21 kamen. An diesen Zahlen zeigt sich, dass es beim Wettstreit um die öffentliche Meinung keine Lösung ist, nur auf eigene Webseiten und Demos zu setzen. Damit erreicht man zwar interessierte und politisierte Bevölkerungsgruppen, aber nicht die breite Masse, die man für die Meinungsmehrheit benötigt.

Abb. 1: Erreichbare Bürger (eigene Darstellung)

Abb. 1: Erreichbare Bürger (eigene Darstellung).

Die öffentliche Meinung wird ganz wesentlich durch Medienberichte geprägt, denn über Presse, Radio und Fernsehen (und deren Internet-Auftritte) erlangen die Bürger den Großteil ihrer Informationen. Vergleicht man die Zahl der direkt per Flugblätter oder Demo erreichbaren Bürger nämlich mit der Auflage einer Lokalzeitung oder gar einer bundesweit relevanten Zeitung wie der Süddeutschen Zeitung, der FAZ oder dem Spiegel, dann wird der Unterschied sehr deutlich (siehe Grafik „Leser pro Ausgabe“). Nur über die Medien kann eine Bürgerbewegung ihre Botschaften und politischen Forderungen in die Breite der Bevölkerung transportieren (noch dazu kostenlos). Und nur so kann eine Bürgerbewegung den Meinungsbildungsprozess in ihre Richtung beeinflussen. Um dies zu erreichen, müssen Bürgerbewegungen aktive und solide Pressearbeit leisten.

Abb. 2: Leser pro Ausgabe

Abb. 2: Leser pro Ausgabe (eigene Darstellung).

Selbstbestimmte Bürgerbeteiligung

Bei der selbstbestimmten Bürgerbeteiligung mischen sich Menschen in den politischen Prozess ein, um ihre Interessen zu vertreten. Dies geschieht unabhängig davon, ob Politiker die Bürger dazu aufgefordert haben – oder pointierter formuliert: unabhängig davon, ob den verantwortlichen Politikern eine Beteiligung am fraglichen Thema gerade gelegen kommt.

Die Bürger haben in einem Fall wie dem Tunnelprojekt Stuttgart 21 keine formale Entscheidungsgewalt. Die Rechtswissenschaft legt fest: Nur Vertragspartner können die von ihnen geschlossenen Verträge auch wieder kündigen. Doch nicht die Bürger sind Stuttgart 21-Vertragspartner, sondern die Deutsche Bahn AG, der Flughafen Stuttgart, der Verband der Region Stuttgart, die Stadt Stuttgart und das Land Baden-Württemberg.

Wer den Ausstieg aus Stuttgart 21 erreichen will, muss dies von den politisch verantwortlichen Vertretern dieser Vertragspartner fordern (Oberbürgermeister, Vorsitzender der Regionalversammlung, Ministerpräsident, Parlamentarier). Nur sie können im Namen der Stuttgart 21-Projektpartner die Kündigung der Verträge für den jeweiligen Vertragspartner einleiten. Ob sie das wollen, steht auf einem anderen Blatt. Und genau da kommt die Bedeutung der selbstbestimmten Bürgerbeteiligung ins Spiel: Die Bürger müssen den öffentlichen Diskussionsprozess so stark beherrschen, dass sie für ihr Anliegen Mehrheiten hinter sich versammeln können. Dies ist eine entscheidende Grundlage für das politisch-strategische Potenzial von Bürgerbewegungen und für die Ausrichtung ihrer Pressearbeit.

Beispiele selbstbestimmter Bürgerbeteiligung

1. Montagsdemos gegen Stuttgart 21 und Mahnwache am Hauptbahnhof

Am Montag, dem 26. Oktober 2009 versammelten sich um 18 Uhr vier Bürger vor dem Nordausgang des Stuttgarter Hauptbahnhofs, um gegen Stuttgart 21 zu protestieren. Die vier kannten sich nicht, sie waren dem Aufruf eines Leserbriefs in der Stuttgarter Zeitung gefolgt. So kam die erste Montagsdemo gegen Stuttgart 21 zustande. Am folgenden Montag kamen schon 20 Menschen. Der Autor dieses Beitrags stieß über einen mit Kreide auf den Boden geschriebenen Hinweis zur fünften Montagsdemo mit bereits 200 Menschen. Im Jahr 2010 bekamen die Montagsdemos sehr viel Zulauf, bis zu 20.000 Teilnehmer jede Woche. An den zusätzlichen Samstagsdemos beteiligten sich bis zu 100.000 Bürger. Die Bürger sahen ihre Interessen von den Politikern nicht vertreten, denn die öffentliche Meinung war eindeutig gegen Stuttgart 21. Unter dem Einfluss der Protestbewegung förderten die Medien immer mehr Nachteile und politische Machenschaften rund um Stuttgart 21 zu Tage. Das Tunnelprojekt wurde öffentlich als Problem wahrgenommen. Die Stuttgarter Bevölkerung war politisch erwacht, quer durch alle sozialen Schichten. Die Politiker kämpften einen aussichtslos erscheinenden Verteidigungskampf.

Am 17. Juli 2010 gründeten die Parkschützer eine Mahnwache am Hauptbahnhof. Tag und Nacht besetzt, auch an Ostern, Weihnachten und Neujahr, gibt es diese Institution des Widerstands bis heute. Etwa 250 Bürger beteiligen sich am Schichtdienst. Hier gibt’s die neuesten Infos und Flyer, Bücher und Kalender, Material für Mitmach-Aktionen und Aufkleber. Die Mahnwache ist eine dauerangemeldete politische Versammlung (siehe Foto „Mahnwache gegen Stuttgart 21“).

Abb. 3: Mahnwache gegen Stuttgart 21, Foto: Petra Weiberg.

Abb. 3: Mahnwache gegen Stuttgart 21, Foto: Petra Weiberg.

Sowohl mit den Montagsdemos als auch mit der Mahnwache hält die Bewegung gegen Stuttgart 21 bis heute die Kritik am geplanten Tunnelbahnhof in der Öffentlichkeit präsent. Beide Protestelemente haben auch die Funktion, die Bewegung zusammenzuhalten und regelmäßiger Anlaufpunkt zu sein. Auch jenseits besonderer Anlässe wie der 250. Montagsdemo im Dezember 2014 sind die Demos und die Mahnwache immer wieder gute Anknüpfungspunkte für Presseberichte über den Widerstand gegen Stuttgart 21.

2. Bürgerbegehren gegen Stuttgart 21

Mit einem Bürgerbegehren beantragen die unterschreibenden Bürger, dass der Gemeinderat einen Bürgerentscheid auf den Weg bringen soll. Die Frage, über die von den Wählern abgestimmt werden soll, formulieren die Initiatoren des Bürgerbegehrens selbst. Sie muss natürlich juristisch einwandfrei sein. Solch ein Bürgerbegehren ist formal die einzige Möglichkeit, mit der Bürger direkten Einfluss auf die Kommunalpolitik ausüben und ihre Interessen direkt durchsetzen können. Dadurch können die Bürger aber letztendlich auch den Winkelzügen der Politik ausgeliefert sein.

Bereits zwei Jahre vor der ersten Montagsdemo initiierte das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 das erste Bürgerbegehren. 67.000 Stuttgarter Bürger beteiligten sich an dieser Form der selbstbestimmten Bürgerbeteiligung. Der Stuttgarter Gemeinderat stimmte jedoch gegen den beantragten Bürgerentscheid zum Ausstieg der Stadt Stuttgart aus Stuttgart 21, weil der Stuttgarter Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) wenige Tage vor der Abgabe der Unterschriften noch schnell einen weiteren Stuttgart 21-Vertrag unterschrieben hatte. So entzog er dem Bürgerbegehren die formale Grundlage und sabotierte es. Das zweite Bürgerbegehren folgte 2011, es wurde vom Gemeinderat ebenfalls abgelehnt und befindet sich bis heute in der gerichtlichen Klärung. Ein drittes und ein viertes Bürgerbegehren wurde gleichzeitig im Jahr 2013 gestartet. Sowohl der Auftakt der Unterschriftensammlung als auch die Übergabe der Unterschriften an den Stuttgarter Oberbürgermeister wurden durch aktive Pressearbeit begleitet. So konnte die Begründung für das Bürgerbegehren und damit zentrale Kritikpunkte an Stuttgart 21 auch einem breiten Publikum näher gebracht werden. Schon bevor der Gemeinderat entscheidet, kann sich eine öffentliche Meinung zugunsten der Bürgerbegehren bilden.

Fach- und Interessengruppen

Die Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21 wird von den Medien als sehr sach- und fachkompetent wahrgenommen: Hunderte Ingenieure, Architekten, Städteplaner, Naturwissenschaftler und Juristen arbeiten in Fachgruppen die Probleme und Nachteile von Stuttgart 21 detailliert auf. Die „Netzwerke der von Stuttgart 21 betroffenen Eigentümer und Anwohner“, die sich entlang der geplanten Tunnelstrecken und Baustellen von Stuttgart 21 formierten und inzwischen mehrere hundert Mitgliedern haben, sind nicht nur Interessengruppen, sie verfügen ebenfalls über hohe Expertise in vielen Detailfragen.

Um dieses Wissen der Bevölkerung zugänglich zu machen, leisten diese Gruppen aktive Pressearbeit. Die Bevölkerung erfährt oft erst auf diesem Weg von kritischen und brisanten Punkten des Tunnelbahnhofs-Projektes. Damit tragen die Fachgruppen zur Bildung der öffentlichen Meinung gegen Stuttgart 21 bei. Gleichzeitig geraten die verantwortlichen Politiker durch inhaltlich kritische Presseberichte unter Druck, denn die Bevölkerung erwartet, dass die Politiker die aufgeführten Nachteile beheben beziehungsweise vermeiden. Es entsteht politischer Druck aufgrund von kritischer Medienberichterstattung, die wiederum auf selbstbestimmte Bürgerbeteiligung zurückgeht.

Aktionen des Zivilen Ungehorsams

Wenn eine Bürgerbewegung die öffentliche Meinung für ihr Anliegen gewinnen möchte, muss sie dieses Anliegen einer breiten Öffentlichkeit bekannt machen. Doch wie erreicht man dies, wenn man unbekannt ist? Vor dieser Frage standen auch die „Parkschützer“ im Frühjahr 2010.

Der Anlass für die Gründung der „Parkschützer“ war die Bedrohung des Mittleren Schlossgartens durch Stuttgart 21-Bagger. Bis zu seiner Zerstörung standen dort hunderte alte Bäume – mächtige Baumriesen. Um für den Schutz der Bäume zu werben, dachten die „Parkschützer“ in Bildern für die Medienöffentlichkeit: Friedliche Menschen, die sich an Bäume ketten und um Bäume herum sitzen. Starke Bilder des persönlichen Einsatzes für eine innerstädtische Erholungsfläche, für Lebensqualität, für Bürgerinteressen, gegen Stuttgart 21. Bei Aktions- und Sitzblockadetrainings wurden mehrere hundert Parkschützer ausgebildet und auch hierüber berichteten die Medien. Diese Trainings bildeten die Grundlage für den gewaltfreien, direkten Widerstand gegen Stuttgart 21, ganz im Sinne des Zivilen Ungehorsams von Thoreau und Gandhi: Protest und friedlicher Widerstand dort, wo der Missstand besteht, wo die Bahn den Park der Bürger für ein sinnloses Projekt zu zerstören droht. Später folgten öffentlichkeitswirksame Aktionen: Banner vom Dach des Hauptbahnhofs (siehe Foto „Banner am Südflügel des Hauptbahnhofs“), symbolische Besetzung des Nordflügels des Hauptbahnhofs, Sitzblockaden vor Baufahrzeugen. Jede Aktion war bildlich eine klare Botschaft. Da solche Aktionen ungewöhnlich sind, berichteten die Medien darüber und die Parkschützer konnten ihre Kritik an Stuttgart 21 öffentlich machen. Dies trug erheblich zur bundesweiten Bekanntheit der Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21 bei.

Abb. 4: Banner am Südflügel des Hauptbahnhofs, Foto: Petra Weiberg.

Abb. 4: Banner am Südflügel des Hauptbahnhofs, Foto: Petra Weiberg.

Vorgegebene Bürgerbeteiligung

Die vorgegebene Bürgerbeteiligung findet nur statt, wenn sie den Politikern, die sie initiieren und vorantreiben, gelegen kommt. Thema und Art der Beteiligung sowie den Entscheidungsrahmen geben die Initiatoren fest vor – sie sind Herr des Verfahrens. Die beteiligten Bürger müssen aufpassen, dass sie nicht zur Staffage für eine abgekartete Sache werden oder in die Mitmachfalle geraten.

Wie kommt es zu dieser Form der Bürgerbeteiligung, die im Gegensatz zu Demonstrationen in unseren demokratischen Strukturen nicht vorgesehen ist? Halten sich alle Beteiligten an die Regeln der Fairness? Wer verfolgt welche Ziele? Wieso kam bei Stuttgart 21 das Thema Bürgerbeteiligung erst auf, als die fachlichen Nachteile, die jahrelange Kostenillusion und jede Menge Mauscheleien in den Medien diskutiert wurden und bis zu 100.000 Bürger zu den Großdemos gegen Stuttgart 21 strömten?

Jede vorgegebene Bürgerbeteiligung ist für Bürgerinitiativen eine Herausforderung: Wer einfach ablehnt, steht in der Öffentlichkeit schlecht da und hat kaum Chancen, die eigenen Argumente zur Geltung zu bringen. Wer mitmacht, riskiert, der Gegenseite in die Hände zu spielen, weil Randbedingungen und das vordefinierte Verfahren der eigenen Sache kaum Raum lassen. Wichtig ist, dass die Bürger ihr Ziel kennen, wenn sie mitmachen: Genügt es ihnen, endlich „auf Augenhöhe“ mit den verantwortlichen Politikern reden zu dürfen oder haben sie – wie bei der selbstbestimmten Bürgerbeteiligung – eine eigene Agenda, die sie verfolgen und von der sie sich auch durch schöne Versprechungen der Politiker nicht abbringen lassen werden? Eine Beteiligung ohne eigene klare Vorstellungen und Ziele verläuft im Sinne der Initiatoren, zumal diese mit professioneller Presse- und Öffentlichkeitsarbeit ihr eigentliches Ziel, die Beeinflussung der öffentlichen Meinung, verfolgen. Wenn die beteiligten Bürger hier nicht fundiert, solide und konstant dagegenhalten, werden sie nur Komparsen sein.

Wenn die Bürger die gebotene Bühne jedoch für ihre eigenen Ziele nutzen können, dann kann die vorgegebene Bürgerbeteiligung den Charakter der selbstbestimmten Bürgerbeteiligung bekommen. Die Bürgerinitiative greift nach den Zügeln und beeinflusst durch ihre Aktivitäten die öffentliche Diskussion. Die Möglichkeit, rechtzeitig aus dem Prozess der vorgegebenen Bürgerbeteiligung auszusteigen, falls die andere Seite mit Tricks und Unwahrheiten operiert, muss jederzeit als Option bewusst sein und bei Bedarf wahrgenommen werden.

Beispiele vorgegebener Bürgerbeteiligung

Schlichtung (2010)

Die Faktenschlichtung mit Heiner Geißler (CDU) ging im Herbst 2010 durch die bundesweiten Medien. Doch wie kam es zur Schlichtung? Am 30.9.2010 ging die Polizei mit Wasserwerfern, Schlagstöcken und Pfefferspray brutal gegen friedliche Demonstranten vor, das Ergebnis: über 400 verletzte Bürger. Nach diesem „Schwarzen Donnerstag“ beteiligten sich 100.000 Menschen an einer Demo gegen Stuttgart 21, die Empörung über den Polizeieinsatz und die Politiker dahinter war weltweit groß. Die politische Situation entglitt der schwarz-gelben Landespolitik, die Stimmung war eindeutig gegen Stuttgart 21. Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) musste die öffentliche Meinung wieder beruhigen. Daher wurde Heiner Geißler engagiert, eine große Fernseh-Show im Stuttgarter Rathaus zu moderieren: Sechs Wochen lang diskutierten Projekt-Befürworter und Projekt-Gegner über alle Einzelaspekte des Tunnelprojekts, live im Fernsehen, über 70 Stunden lang. Am Ende dieser Schlichtung war die öffentliche Meinung gekippt, Umfragen bestätigten eine Mehrheit für das Tunnelprojekt, es war rehabilitiert. Sämtliche offizielle „Ergebnisse“ verschwanden alsbald in der Versenkung – kein einziger Punkt des sogenannten Schlichterspruchs wurde umgesetzt.

Was war passiert? Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 war glücklich, endlich „auf Augenhöhe“ mit der Bahn und den Politikern diskutieren zu dürfen – und realisierte nicht, dass es einzig und alleine darum ging, die Landesregierung und Stuttgart 21 zu rehabilitieren. Die Bürgerbewegung ging politisch naiv in diese Schlichtung und erhoffte sich, durch die ausführliche Darstellung der Nachteile von Stuttgart 21 die Meinung der Bevölkerungsmehrheit positiv zu prägen und damit den Konflikt zu gewinnen. Das Gegenteil war der Fall: Die Empörung der Menschen wurde zerredet und die bereits gewonnene öffentliche Gunst ging verloren. Niemand hatte nachgedacht, wie diese Schlichtung zielgerichtet für die eigene Sache hätte genutzt werden können: weder im Aktionsbündnis noch bei den Verbänden oder bei den Grünen. Es wäre möglich gewesen, die Schlichtung abzubrechen, weil die Bahn wiederholt wichtige Daten und Gutachten nicht vorlegte – Gelegenheiten gab es genug, doch leider fehlte der politische Weitblick oder der Mut.

Volksabstimmung (2011)

Der Konflikt um Stuttgart 21 führte im März 2011 zur Abwahl der CDU-geführten Landesregierung. Doch die neue grün-rote Regierung war beim Thema Stuttgart 21 in sich zerstritten: Die SPD befürwortete das Projekt, die Grünen lehnten es ab. So einigte man sich auf eine landesweite Volksabstimmung über den Ausstieg des Landes aus der Stuttgart 21-Finanzierung. Doch die Abstimmungsfrage legte eine Debatte über die Ausstiegskosten nahe. Die Stuttgart 21-Befürworter ergriffen diese Gelegenheit, um mit falschen Zahlen, Stammtischparolen („1,5 Milliarden für den Ausstieg verschwenden?“) und illegalen Werbeaktionen der CDU-Bürgermeister im ganzen Land die Abstimmung für sich zu gewinnen. Die Kampagne der Bürgerbewegung war schlecht gemacht und noch dazu übten sich die politisch Verantwortlichen bei den Grünen in vornehmer Zurückhaltung, während die Landespolitiker von SPD, CDU und FDP fleißig für Stuttgart 21 warben – mit unhaltbaren und irreführenden Aussagen. Die SPD bekam somit in der öffentlichen Wahrnehmung ihre erhoffte nachträgliche Legitimation für Stuttgart 21 und die Grünen fügten sich dem Diktat ihres Koalitionspartners. Die Bürgerbewegung schaffte es nicht noch einmal, die Menschen zu erreichen und für ihre Sache zu gewinnen.

Filder-Dialog (2012)

Eine der zentralen Werbeaussagen für Stuttgart 21 ist die Anbindung des Flughafens (auf der Filder-Ebene). Doch bereits heute fährt die S-Bahn im 30-Minuten-Takt vom Hauptbahnhof zum Flughafen. Eine genehmigungsfähige Planung für die Stuttgart 21-Flughafenanbindung fehlt hingegen nach wie vor. Ähnlich der Schlichtung wurde der sogenannte Filder-Dialog angesetzt, um Politikern und Projektbetreibern aus der Patsche zu helfen: Über sieben Planungsvarianten sollte abgestimmt werden. Die Bürgerinitiativen gingen davon aus, wenigstens der besten der schlechten Lösungen zur Umsetzung zu verhelfen. An die öffentliche Meinung dachten sie leider viel zu wenig.

Doch die Variante, die am Ende des Filder-Dialogs auf Platz 1 landete, gefiel weder der Bahn noch der Landesregierung und man konzentrierte sich lieber auf die Variante, die auf Platz 2 landete. Diese ist inzwischen auch Makulatur, ebenso wie die ursprüngliche, nicht genehmigungsfähige Planung der Bahn, die zwischenzeitlich wieder auf den Tisch kam. Jetzt ist eine achte Variante in der Diskussion, doch auch sie kann die grundsätzlichen Probleme von Stuttgart 21 im Filder-Bereich nicht lösen.

Erörterungsverhandlung zum Filder-Abschnitt (2014)

Die Bürgerbeteiligung im Rahmen der Planfeststellung eines Bauprojekts ist gesetzlich vorgeschrieben: Betroffene Bürger können Einwendungen gegen die Baupläne einreichen. Bei Stuttgart 21 sind besonders viele Bürger betroffen, daher reichten alleine beim Planabschnitt „Filder-Bereich mit Flughafenanbindung“ 5.500 Bürger Einwendungen ein. Solche Masseneinwendungen eignen sich gut für Pressearbeit, denn die Übergabe zahlreicher Kisten mit Einwendungen zeigt die breite Kritik am Projekt.

Wie oben dargestellt, sind die Pläne für den Filder-Abschnitt eine einzige Katastrophe. Und so kam es, dass der Oberbürgermeister der Stadt Leinfelden-Echterdingen die Verkehrsexperten der TU Dresden beauftragte, die Auswirkungen auf die dort ebenfalls verkehrende S-Bahn zu untersuchen. Resultat: Die Pläne der Bahn fielen auf ganzer Linie durch. Darüber berichteten die Medien ausführlich, sehr zum Nachteil der Bahn. Die Zweifel an Stuttgart 21 wurden wieder größer.

Fazit

Wenn die Bürger erreichen wollen, dass ihre Interessen von der Politik vertreten werden, dann müssen sie dafür sorgen, dass ihr Anliegen auch in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Neben der direkten Information (Flyer, Infoveranstaltungen etc.) ist auch aktive Presse- und Öffentlichkeitsarbeit wichtig. Durch Medienberichte werden die Ziele und politischen Forderungen einer Bürgerbewegung der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die öffentliche Meinung kann sich zugunsten der Bewegung verändern, engagierte Bürger schreiben Leserbriefe und die Medien rufen zur Meinungsumfrage auf. Auf diese Aktionen müssen die Politiker reagieren und somit werden nach und nach die politischen Entscheidungen durch die Forderungen der Bürgerbewegung beeinflusst.

Der Autor

Matthias von Herrmann, geb. 1973, hat an der Universität Stuttgart  Politikwissenschaft,  Volkswirtschaftslehre  und  Chemie  mit Magister-Abschluss studiert. Nach dem Studium folgte eine langjährige  Anstellung  als  Assistenz  der  Geschäftsführung  in  einem
metallverarbeitenden Betrieb. Von 1995 bis 2003 war er bei Greenpeace ehrenamtlich aktiv, seit 2010 ist er Pressesprecher der Parkschützer in der Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21. Im Jahr 2011 machte er sich mit „Presse & Kampagne“ selbstständig: Als Trainer und  Berater  unterstützt  er  Nichtregierungsorga„Stuttgar 21“ – Bürger mischen sich einnisationen,  Bürgerbewegungen, Verbände und Vereine bei professioneller Presseund Kampagnenarbeit.

Der Beitrag ist ursprünglich im kostenlos erhältlichen ersten KURSBUCH BÜRGERBETEILIGUNG erschienen. Die Fortsetzung erscheint im Herbst 2016.

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